Islamischer Staat:Geburt aus Saddams Schattenreich

Mit einfachen Mustern ist der Aufstieg des IS nicht zu erklären. Wilfried Buchtas Studie über die Ursachen des Terrors im Irak beeindruckt durch Mehrdimensionalität.

Von Moritz Behrendt

Der Irak zerfällt. Für die Terrorgruppe, die sich heute Islamischer Staat (IS) nennt, war der gescheiterte Staat ein ideales Betätigungsfeld, um die eigene Macht zunächst verdeckt, später offen auszuweiten. Diese Erkenntnis ist eigentlich banal, blickt man auf die Feindschaft zwischen Schiiten und Sunniten oder auf das Bestreben der Kurden nach eigener Staatlichkeit. Aber was hinter dem Begriff Staatszerfall steht, das hat wohl noch niemand so ausführlich und genau beschrieben wie der Irak-Kenner Wilfried Buchta in seinem jüngsten Buch "Terror vor Europas Toren".

Der Autor, der 2005 bis 2011 als politischer Analyst für die Vereinten Nationen in der Hauptstadt Bagdad gearbeitet hat, macht deutlich, dass hier zerfällt, was nie so richtig zusammengepasst hat. Er zitiert König Faisal I., der 1932 schrieb: "Ich glaube, es gibt gar kein irakisches Volk im Irak." Buchta macht es sich und seinen Lesern aber nicht so einfach, das Scheitern des Staates nur an willkürlichen kolonialen Grenzziehungen festzumachen oder an dem unheilvollen Einmarsch der Amerikaner im Jahr 2003.

Das Buch ist ein eindringliches Plädoyer dafür, genauer hinzuschauen

Sehr genau nimmt er auch das letzte Jahrzehnt der Herrschaft von Saddam Hussein unter die Lupe, eine Zeit, in der dieser seinen eigenen Staat systematisch ausgehöhlt und geschwächt hat. Nach dem verlorenen Kuwait-Krieg und den darauf folgenden Aufständen der Schiiten und der Kurden entzog der Diktator der Baath-Partei, der Armee und anderen staatlichen Institutionen Macht und Befugnisse. "An ihre Stelle war ein, allein auf persönliche Bindung an Saddam Hussein gegründeter, ,Schatten-Staat' getreten", schreibt Buchta; ein Netzwerk, in dessen Zentrum rivalisierende Geheimdienste standen. Jeder sollte jeden überwachen. Keiner sollte so stark werden, dass er einen Putsch gegen Saddam gewagt hätte.

Islamischer Staat: Ein IS-Kämpfer auf dem Glockenturm einer Kirche in Mossul. Die Terrormiliz kontrolliert die zweitgrößte Stadt im Irak seit mehr als einem Jahr.

Ein IS-Kämpfer auf dem Glockenturm einer Kirche in Mossul. Die Terrormiliz kontrolliert die zweitgrößte Stadt im Irak seit mehr als einem Jahr.

(Foto: AP)

Der Rückblick in die frühen 1990er-Jahre ist deshalb so klug, weil sich manche Strukturen und Akteure von Saddams "Schatten-Staat" heute an den Schaltstellen des IS wiederfinden, allen ideologischen Widersprüchen zum Trotz.

Die Schwächung der staatlichen Institutionen durch Saddam ist für den Islamwissenschaftler Buchta ein Schlüssel für das Scheitern des Iraks, aber beileibe nicht der einzige. Dem Autor ist jede Eindimensionalität fremd: Er analysiert ebenso kritisch den oft wenig segensreichen Einfluss des Nachbarn Iran auf die Politik in Bagdad und den schiitischen Klerus in Nadschaf, wie er auch die Fehler der US-Regierung und ihrer Vertreter im Irak benennt: Die Auflösung der Armee, die politische Marginalisierung der Sunniten, die Konzeptlosigkeit beim grandios gescheiterten Projekt, das Zweistromland nach amerikanischen Vorstellungen zu demokratisieren.

Buchta, der in seiner Zeit in Bagdad mit fast allen irakischen Spitzenpolitikern in Kontakt war, lässt auch kaum ein gutes Haar an dem 2014 zurückgetretenen Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki. Dieser habe aus der von den Amerikanern angestoßenen Ent-Baathifizierung eine wahre Hexenjagd gemacht, aus Rache und um die eigene Macht auszubauen.

Der IS archiviert penibel die Urlaubsanträge seiner Kämpfer

Trotz der Vielzahl der Akteure und der großen Detailfülle schreibt der Autor klar und verständlich. Seine Sprache bleibt fast durchgehend nüchtern, auffällig nüchtern. Anekdoten oder Beschreibungen seiner Treffen mit den Entscheidungsträgern im Irak lässt er weg. Er habe kein Bagdad-Tagebuch verfassen wollen, schreibt Buchta im Nachwort. Eine richtige Entscheidung! Die Dichte und Präzision seiner Analyse hätte durch eitle Einschübe nichts gewonnen, ebenso wenig wie durch ausschmückende Darstellungen brutaler Gewalttaten. Wer nach einfachen Erklärungsmustern für die Ursachen des Terrors im Irak sucht, der wird bei Buchta nicht fündig. Postulaten wie "die Amerikaner haben es verbockt", oder "das ist ein kaum aufzuhaltender Religionskrieg zwischen Schiiten und Sunniten" setzt er eine wohltuend differenzierte Betrachtung entgegen.

Was Buchta über den Aufstieg der Terrormiliz IS, über die symbolträchtige Ausrufung des Kalifats schreibt, ist ebenfalls detailliert, bleibt analytisch aber ein wenig hinter den Ausführungen über den Irak zurück. Der Autor verweist auf die Bürokratie des Terrors: So archiviert der Islamische Staat penibel die Urlaubsanträge seiner Kämpfer und veröffentlicht, einem Wirtschaftsunternehmen gleich, Jahresberichte.

Islamischer Staat: Wilfried Buchta, Terror vor Europas Toren. Der Islamische Staat, Iraks Zerfall und Amerikas Ohnmacht, Campus Verlag 2015, 413 Seiten, 22,90 Euro.

Wilfried Buchta, Terror vor Europas Toren. Der Islamische Staat, Iraks Zerfall und Amerikas Ohnmacht, Campus Verlag 2015, 413 Seiten, 22,90 Euro.

Buchta schildert auch die Anfänge der Organisation im Jahr 1999, ihre Rolle als al-Qaida im Irak unter der Führung des Jordaniers Abu Musab al-Sarkawi. Dieser hatte 2005 mit seiner Kriegserklärung an die Schiiten den Bürgerkrieg im Irak angeheizt und sogar die Al-Qaida-Führung im fernen Waziristan gegen sich aufgebracht. Al-Qaida im Irak konnte von den 2007 aufgestockten US-Truppen und den sogenannten Erweckungsräten der sunnitischen Stämme niedergeschlagen werden. Iraks Premier Maliki weigerte sich aber, nach dem Abzug der amerikanischen Kampftruppen den sunnitischen Milizen weiterhin einen Sold zu zahlen. Ein folgenschwerer Fehler, wie Buchta zeigt. Wenn es heute darum geht, den IS zu bekämpfen, fallen die sunnitischen Milizen als Partner aus. Die schwache Armee ist daher auf die Hilfe der von Iran unterstützten schiitischen Milizen angewiesen. Diese gehen in sunnitischen Provinzen wie Anbar aber häufig nicht weniger grausam vor als ihre Gegner des IS.

Kein ernsthaftes Interesse an der Aussöhnung

Militärisch und wirtschaftlich könne die Terrorgruppe durchaus zurückgedrängt werden, schreibt Buchta, die Grundprobleme des Irak würden dadurch aber nicht gelöst. Er habe - und da greift er ausnahmsweise doch direkt auf seine eigenen Erlebnisse zurück - kaum einen irakischen Politiker getroffen, der ein ernsthaftes Interesse an der Aussöhnung zwischen Schiiten und Sunniten habe. Eine Ausnahme sei der schiitische Großayatollah Ali al-Sistani. Der ist allerdings bereits 84 Jahre alt.

Buchta bietet keine einfachen Lösungsmöglichkeiten für den Umgang mit dem IS an, da würde er sich auch untreu. Sein Buch ist ein eindringliches Plädoyer dafür, genauer hinzuschauen und die politischen und gesellschaftlichen Strukturen und Brüche in der Region wahrzunehmen. Das gilt für den Irak und im gleichen Maße für Syrien. Wer im Kampf gegen den IS das syrische Assad-Regime schon als neuen Verbündeten sieht, der sollte sich über dessen Machtmechanismen gut informieren.

Moritz Behrendt ist freier Journalist und Mitherausgeber der Orient-Zeitschrift Zenith.

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