Islamischer Staat:Europas Terroristen

Abdelhamid Abaaoud

Der mutmaßliche Drahtzieher der Anschläge von Paris Abdelhamid Abaaoud wuchs im Brüsseler Vorort Molenbeek auf. Am 18. November wurde er bei einer Polizeiaktion getötet.

(Foto: dpa)

Der Kampf gegen den Terror lässt sich bisher als Bürgerkrieg an: Auch wenn die Attentäter sich bei ihren Taten auf ihren Kalifen in Syrien berufen, so sind sie doch Staatsbürger Europas.

Kommentar von Rudolph Chimelli

Plötzlich reden alle vom Krieg; Politiker und Kommentatoren, Diplomaten, Militärs, Zeithistoriker und Islam-Experten von ganz unterschiedlicher Qualifizierung, Deutsche wie Franzosen. Der Feind ist erkannt. Es ist der Terrorismus, gesteuert vom "Islamischen Staat". Aber das dürfte fast die einzige Gewissheit sein, die der asymmetrische Konflikt zwischen modernen Gemeinwesen und einer Sekte von Amokläufern zu bieten hat.

Als Erstes sollte man sich die Selbsttäuschung sparen, der nun erklärte Krieg sei am vergangenen Wochenende in Paris ausgebrochen oder Anfang des Jahres mit dem Überfall einer Mörderbande auf die Zeitschrift Charlie Hebdo. Denn schon nach dem 11. September 2001 hatte Amerikas Präsident seinen fatalen Aufruf zum "Krieg gegen den Terror" erlassen und in Afghanistan und im Irak interveniert. Seither fallen Bomben, fliegen die Drohnen und treffen Gerechte wie Schuldige.

Bei Konflikten lässt sich meist recht genau feststellen, wie und wann sie begonnen haben. Viel schwieriger aber kann es sein, sie wieder zu beenden. Amorphe Organismen wie der Islamische Staat sind ihrem Selbstverständnis nach nicht für Waffenstillstände oder Friedensschlüsse zu haben - ja, sie könnten nicht einmal die Einhaltung einer bedingungslosen Kapitulation garantieren.

Um den IS zu bekämpfen, bleibt eigentlich nur dessen Vernichtung, wobei aber noch niemand sagen kann, wie unsere rechtsstaatliche Ordnung eine solche Strategie übersteht. Einschlägige - und furchtbare - Erfahrungen hat US-Präsident George W. Bush mit al-Qaida gemacht, als er sich auf einen Krieg ohne Sieg und ohne absehbares Ende einließ.

Die westliche Heuchelei ist kontraproduktiv

Die Bedrohung, unter welcher der Westen leidet, ist kein reiner Importartikel aus dem islamischen Orient. Die westlichen Staaten sind als Zulieferer beteiligt, schon allein wegen der Waffenbrüderschaft mit Saudi-Arabien, dessen religiöse Staatsideologie und Glaubenspraxis sich nur in Nuancen von denen des IS unterscheiden. Die westliche Heuchelei ist kontraproduktiv.

Obwohl die Attentäter des 11. September 2001 fast alle aus dem Königreich Saudi-Arabien stammten, überzog Bush den Irak mit Krieg, einen Staat, der mit 9/11 nichts zu tun hatte. Peter Ustinov, der nicht nur ein begnadeter Komödiant war, sondern auch Sinn für Satire hatte, sagte einmal: Terrorismus ist der Krieg der Armen, Krieg ist der Terrorismus der Reichen.

Wenigstens hat der Westen in der akuten Krise eine vergessene Binsenweisheit wieder entdeckt: Wenn Probleme zu lösen sind oder Konflikte beigelegt werden sollen, genügt es nicht, immer nur mit Gleichgesinnten zu reden. Man muss mit der anderen Seite sprechen, mit Leuten, die bisher als Gegner galten oder abweichende Interessen vertreten.

Überraschend bahnt sich daher eine Verschiebung von Allianzen an. So ist der russische Präsident Wladimir Putin plötzlich nicht mehr nur der Dieb der Krim, sondern auch ein Sicherheitspartner, dessen Zustimmung und Waffen gebraucht werden. Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdoğan, bisher scheel angesehen als Autokrat, ist über Nacht zum begehrten Freund geworden. Er kann zumindest einen Teil der Flüchtlingsströme steuern, die derzeit Westeuropa erreichen.

Auch die Islamische Republik Iran steht nicht mehr in der Ecke, sondern sitzt an fast allen internationalen Konferenztischen. Und sogar die gebetsmühlenartigen Rufe "Assad muss weg!" sind für den Augenblick verstummt. Seine neue Rolle ist die des Mohren, der noch eine Zeit lang gebraucht wird, wenn Syrien zur Ruhe kommen soll.

Europa könnte zerbrechen

Man kann keinen größeren Fehler machen als den, seine eigene Propaganda zu glauben. Das Spiel mit Illusionen aber ist eine Passion westlicher Meinungsführer. Jeden Tag werden unbequeme Wahrheiten weich gewaschen. Der IS hat sicher nichts mit der wahren Lehre des Koran zu tun, sondern ist ein kriminelles Zerrbild.

Auf dem geistigen Boden einer anderen Weltreligion ist der IS freilich nicht gewachsen. Doch warum unterwerfen sich so viele sunnitische Muslime seiner Schreckensherrschaft? Weil sie ihn zwar als Übel sehen, aber nicht als ein viel schlimmeres als ihre unfähigen, korrupten, überkommenen Regime.

Dass sich unter den Hunderttausenden Flüchtlingen keine Agenten und Schläfer des IS befinden, will angesichts von dessen Organisationsvermögen außer deutschen Sicherheitsexperten kein Mensch in Europa behaupten. Ins Reich der Legenden gehört auch die Version, diese Flüchtlinge seien immun gegen die Verlockungen des radikalen Islam, denn sie seien ja gerade vor diesem geflohen. Tatsächlich suchen die meisten das bessere Leben Europas, was ihnen niemand zum Vorwurf machen kann.

Der Kampf gegen den Terror lässt sich bisher als Bürgerkrieg an. Denn auch wenn die Attentäter sich bei ihren Taten auf ihren Kalifen in Syrien berufen, so sind sie doch Staatsbürger Europas - überwiegend Franzosen und Belgier. Was die ihnen verhassten neuen Heimatländer mit ihnen anfangen sollen, falls es gelingt, sie niederzukämpfen und zu isolieren, weiß kein Mensch. Der jüngste Überfall auf ein Hotel in Mali zeigt ihre Taktik, den Franzosen, die auch dort dominieren, keine Atempause zu lassen.

Sie werden nicht einfach vom Erdboden verschwinden

Die Frage nach der Zukunft stellt sich noch mehr für Zehntausende gehirngewaschene Glaubenskämpfer in Syrien und im Irak, wenn der Islamische Staat mit seinem sehr begrenzten militärischen Potenzial einmal niedergekämpft ist. Sie werden nicht einfach vom Erdboden verschwinden.

Die Chancen für eine Resozialisierung scheinen gering zu sein, in Europa wie im Nahen Osten. Die Umerziehung reuiger Terroristen, wie man sie mit enormem Aufwand vor allem in Saudi-Arabien versucht, schlägt meistens fehl. So verschwanden prominente saudische Islamisten nach ihrer Freilassung sofort im jemenitischen Untergrund.

Die Opfer von Paris werden für viele in der Erinnerung verblassen. Ein großes Land wird mit der Tragödie fertig. Was bleibt, ist die tiefe Uneinigkeit im westlichen Lager über den Umgang mit den Grundproblemen, die von den Anschlägen ins Bewusstsein gerufen wurden. An ihr könnte Europa zerbrechen.

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