Islam:Zeit der Zumutungen

Viele Linke und Liberale haben Deutschland zwar immer schon als Einwanderungsland gesehen. Zugleich aber haben sie die Muslime freundlich ignoriert. Damit will Cem Özdemir nun Schluss machen.

Von Matthias Drobinski

Cem Özdemir, dessen Mutter einst alles daransetzte, einen guten Muslim aus dem Jungen zu machen, hat auf dem Grünen-Parteitag in Halle auch deshalb eine bemerkenswerte Rede gehalten, weil er ebenso emotional wie klar über seine Ursprungsreligion gesprochen hat, den Islam. "Es muss möglich sein, im Jahr 2015 die Worte des Propheten zeitgemäß auszulegen", hat er in den Saal gerufen, und: "Kein heiliges Buch steht über den Menschenrechten und der Verfassung der Bundesrepublik." Er hat den saudischen Wahabismus als den aggressiven Fundamentalismus kritisiert, der er ist. Nimmt man dann noch das Positionspapier, in dem Özdemir gemeinsam mit Volker Beck sich gegen die Anerkennung der muslimischen Verbände als Religionsgemeinschaft ausspricht, kann man sagen: Da hat sich etwas geändert bei den Grünen.

Es ist das Ende der Indifferenz, die bei den Grünen lange Zeit bei diesem Thema herrschte. Man war natürlich für Moscheebau und gegen Islamfeindschaft, aber natürlich auch für die Rechte von Frauen und Homosexuellen und gegen Antisemitismus. Beides aber lebte fast immer unverbunden nebeneinander; man konnte mit ganzer Kraft erst für das eine und dann das andere sein. Die Grünen standen damit für viele deutsche Linke und Liberale, die ihr Land zwar als Einwanderungsland sahen, denen aber dann doch das Leben, die Kultur und die Religion der meisten dieser Einwanderer fremd blieb.

Linke und Liberale haben Muslime lange freundlich ignoriert

Die Zeit dieser freundlichen Ignoranz ist vorbei. Erstens fordern Moscheegemeinden und muslimische Verbände nach 50 Jahren Randexistenz zu Recht ihren Platz in Staat und Gesellschaft. Zweitens sind mehrere Hunderttausend Muslime neu ins Land gekommen. Und drittens ist eine terroristische Bewegung entstanden, die zwar ihre Opfer unter Gläubigen wie Nichtgläubigen aller Art sucht - deren Ideologie und Identitätsmerkmale aber in einem Islamverständnis wurzeln, das weit über diesen Terrorismus hinaus Anhänger findet. In dieser Situation muss aus der freundlichen Ignoranz eine echte Religionspolitik werden. Es braucht den Streit um das richtige Verhältnis von positiver und negativer Religionsfreiheit, der Freiheit zur Religionsausübung und dem Recht, ein Leben frei von Religion leben zu können - umso mehr, je stärker diese Religionsfreiheit in Spannung mit anderen Menschenrechten gerät.

Cem Özdemir hat deshalb keine islamkritische Rede gehalten. Er hat sich als "säkularer Muslim", wie er sich selber sieht, in die Debatte eingemischt, wie, zu welchen Bedingungen und in welchen Rechtsformen der Islam ein Teil der Kultur des Landes werden kann. Diese Inkulturationsdebatte hält für Muslime wie Nichtmuslime einige Zumutungen bereit. Sie verhindert noch nicht einmal, dass weiterhin junge Menschen in den angeblich heiligen Krieg nach Syrien ziehen. Sie ist aber unausweichlich, es sei denn, man wünscht sich Muslime weggezaubert oder in Lager gesperrt. Sie ist notwendig um der freien und offenen Gesellschaft selber willen.

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