Irland vor dem EU-Referendum:Wer hat Angst vorm kleinen Mann?

Sie sind eigen, aber in Sachen Europa meist vorbildlich. Nicht nur wegen der wirtschaftlichen Krise im Land droht jetzt, dass die Iren den Lissabonner Vertrag ablehnen - Brüssel und ihrer Regierung zum Trotz.

Wolfgang Koydl, Dublin

Es sind große Dinge, die der Redner seinem Publikum abverlangt, und die drei, vier Dutzend Leute im Saal sind offenkundig unschlüssig, ob sie sich geschmeichelt fühlen oder vielleicht doch eher geschockt sein sollen.

Referendum Irland; dpa

"Bei dem Gedanken, dass wir für ganz Europa sprechen, kann einem schon ein wenig schwindlig werden." Es deutet einiges darauf hin, dass die Iren "Nein" zum neuen EU-Vertrag sagen werden.

(Foto: Foto: dpa)

"500 Millionen eurer europäischen Mitbürger blicken auf euch und auf eure Stadt", peitscht der Mann auf dem Podium seine Zuhörer auf, als ob er sie zur Erstürmung irgendwelcher Barrikaden antreiben möchte. "Europas Bürger blicken auf euch, denn sie brauchen euch", fährt er atemlos fort. "Sie brauchen eure Erlaubnis, damit sie das Projekt Europa fertigbauen können." Wahrlich große Worte, vor allem wenn man sie an den Umständen des Abends misst.

Denn den überwiegend älteren Damen und Herren auf den abgewetzten Velourssitzen war bislang nicht bewusst gewesen, welch gewaltige gesamteuropäische Verantwortung auf ihren Schultern ruht. Manche haben sich ihr Bierglas mitgebracht, andere schielen zur Tür, hinter der sich der Tresen verbirgt und von wo frohes Stimmengewirr herüberschallt.

Auch die Halle des Finngallians Gaelic Sports Club in der Pendlergemeinde Swords nördlich der Hauptstadt Dublin, in der sie sich versammelt haben, scheint auf den ersten Blick nicht einer jener Orte zu sein, die sich die Geschichte für ihre dramatischeren Wendepunkte aussuchen würde. An den Wänden hängt die Dekoration vom letzten Hochzeitsschwof, in der Luft liegt leicht säuerlicher Schweißgeruch, den die Karategruppe hinterlassen hat, die erst vor einer halben Stunde den Saal räumte; und aus der Küche unterbricht das Klirren von Messern und Gabeln, die in die Spülmaschine gestapelt werden, den Fluss des Redners.

Die netten Iren

Swords mag zwar nur eine halbe Autostunde von der Metropole entfernt sein, aber es ist Provinz, tiefe irische Provinz mit provinziellen Tief- und Höhepunkten. Das letzte Mal, dass hier die Erde bebte, war, als die Jungs vom Finngallians Club die Kreismeisterschaft im Nationalsport Hurling gegen die Nachbargrafschaft verloren.

Doch am kommenden Donnerstag steht auch in Swords sehr viel mehr auf dem Spiel als ein Meistertitel, und Enda Kenny, der Vorsitzende der konservativen irischen Fine-Gael-Partei, übertreibt nur ein kleines bisschen, wenn er nun eindringlich von den Augen Europas spricht, die auf das kleine Irland gerichtet sind.

Denn als Einzige von knapp einer halben Milliarde Europäern werden die etwas mehr als drei Millionen irischen Wahlberechtigten in einer Volksabstimmung über den Lissabonner Vertrag befinden - und damit über den Fortgang des europäischen Projekts. "Bei dem Gedanken, dass wir für ganz Europa sprechen, kann einem schon ein wenig schwindlig werden", meint denn auch Sean McGee, der am Eingang die Anwesenheitsliste führt.

Kein anderer Mitgliedsstaat hat es gewagt, seine Bürger über dieses Dokument entscheiden zu lassen, das einst das Licht der Welt als europäische Verfassung erblickte. Nachdem Franzosen und Niederländer diese Grundordnung Europas abgelehnt hatten, wollte keine Regierung mehr das Risiko eingehen. Stattdessen ratifizierten die Parlamente den Vertrag. Nur Irland konnte die Bestimmung nicht umgehen, die zwingend das Plazet der Wähler vorschreibt, wenn die Verfassung des Landes geändert werden soll.

Doch die Iren, da war man in Dublin und in Brüssel sicher, würden keine Probleme machen. Sicher, 2001 hatten sie zu europaweiter Verblüffung den Vertrag von Nizza um ein Haar gekippt. Doch abgesehen von diesem Ausrutscher - den sie zudem in einem zweiten Referendum wenige Monate später korrigierten - hatten sie sich stets als mustergültige Europäer erwiesen.

Mit gutem Grund: Dank der EU wandelte sich das Aschenputtel Europas zum kraftstrotzenden Keltischen Tiger. Irland ist zwar nicht das einzige Land, das seiner EU-Mitgliedschaft Wohlstand und ein gesteigertes Selbstbewusstsein verdankt; aber es gehört zu den wenigen Staaten, die sich dieses Umstandes bewusst sind und dies auch offen zugeben. Die netten Iren würden sich, so die Überzeugung, nicht undankbar erweisen.

Doch nun droht alles ganz anders zu kommen, und dies ist der Grund, weshalb sich Enda Kerry im Sportsaal von Swords derart abrackert. Es ist nicht seine erste Veranstaltung in dieser Kampagne und sicher nicht die letzte, und so wie er tingelt das gesamte politische Establishment der Insel seit fast vier Wochen durch alle 26 Grafschaften von Cork bis Donegal. "Ich investiere genauso viel Zeit in diese Kampagne wie in eine Parlamentswahl, in der ich meinen Sitz verteidige", sagt Europa-Minister Dick Roche von der regierenden Fianna-Fail-Partei.

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Wer hat Angst vorm kleinen Mann?

Brian Cowen, Irlands neuer Ministerpräsident, hat die Tagespolitik vorerst hintan gestellt. Ob vor Kirchentüren oder in Einkaufszentren: Wann immer möglich tritt er gemeinsam mit der Opposition vor die zweifelnden Wähler. Ich kenne keine Parteien mehr, so die Botschaft, ich kenne nur noch Europäer. Viele Iren freilich sprechen zynisch von einer verkappten "Regierung der nationalen Einheit", wie man sie eigentlich nur in Zeiten eines nationalen Notstandes bilden würde.

Dieser Ernstfall droht in der Tat vor der Tür zu stehen. Denn obwohl mit Ausnahme der in der irischen Republik relativ bedeutungslosen Sinn-Fein-Partei alle anderen fünf im Parlament vertretenen politischen Gruppierungen für Lissabon sind, obwohl die Geschäftswelt und die Gewerkschaften, die Bauern und die Bischöfe dem Vertrag ihren Segen gegeben haben, deutet manches darauf hin, dass die Iren der gebündelten Weisheit des politisch-gesellschaftlichen Establishments frech den Mittelfinger entgegenstrecken und "Nein" sagen werden.

Spricht man in diesen Tagen mit Politikern, Regierungsbeamten, Diplomaten und Akademikern in Dublin, hört man keine einzige zuversichtliche Stimme. "Es steht auf Messers Schneide", sagt Brigid Laffan, Professorin für Europa-Studien am University College Dublin. "Es ist so knapp, dass eine Vorhersage unmöglich ist", stimmt Andrea Pappins vom paneuropäischen European Movement International zu.

Ein Regierungsbeamter, der seinen Namen nicht gedruckt sehen will, wagt gleichwohl eine Prognose: "Wenn wir Glück haben, geht es mit 52 zu 48 Prozent für die Befürworter aus." Mit anderen Zahlen operiert Paddy Power, Irlands führendes Wettbüro: Es hat die Quoten für einen Nein-Sieg binnen zweier Tage drastisch von 5 zu 1 auf 8 zu 13 reduziert. Mit anderen Worten: Wer zehn Euro setzt, gewinnt 16,15 Euro. Keine berauschende Quote.

Nach der Veröffentlichung der vorerst letzten Meinungsumfragen vor dem Abstimmungstag freilich dürfte man mit einem Nein-Tipp noch weniger gewinnen. Denn nach der Erhebung des als äußerst zuverlässig eingeschätzten Meinungsforschungsinstitutes mbri, die von der renommierten Tageszeitung Irish Times in Auftrag gegeben worden war, sind zum ersten Mal seit Beginn der Kampagne die Vertragsgegner in Führung gegangen: 35 Prozent der Befragten wollen Lissabon ablehnen, nur 30 Prozent sind zur Zustimmung bereit. Der Rest hat sich noch nicht entschlossen. Eine zweite Erhebung am Sonntag sieht die Befürworter zwar wieder vorne; ihr Vorsprung von lediglich drei Prozentpunkten erlaubt freilich keine zufriedene Selbstgefälligkeit.

Verloren im Kauderwelsch

Was beide Umfragen besonders besorgniserregend macht, sind weniger die Zahlen als die Details: Sie besagen, dass Europa nur noch eine Mehrheit bei den Alten hat. Die Jugend und die Frauen gehen auf Distanz, ebenso die Arbeiter. Selbst jenen, die mit Ja stimmen wollen, geht es offensichtlich nur in zweiter Linie um Europa. Die weitaus meisten wollen mit ihrem Votum nach eigenen Worten nur vermeiden, dass "Irland sich blamiert".

"Uns reicht die Blamage mit Dustin, dem Truthahn, beim Eurovision Song Contest", sagt Aine Flanagan, die sich in der Grafton Street eine Times mit der Umfrage kauft. "Wir brauchen kein zweites europäisches Fiasko", sagt sie grinsend.

Die breite Ablehnung ist umso unverständlicher, als die Riege der Vertragsgegner ein versprengter Haufen von den Rändern des politischen Spektrums ist: Alt-sozialistische Feinde der Globalisierung und einer vermuteten Militarisierung der EU scharen sich um die nationalistische Sinn Fein, die einst den Terroristen der IRA politische Legitimität verlieh. Auf der extremen Rechten schüren Fundi-Katholiken Ängste, dass Brüssel Sodom und Gomorra in Gestalt von Abtreibung, Prostitution und Euthanasie auf der unschuldigen Insel auferstehen lassen werde.

In der Mitte stehen jene Wähler, die den Vertrag ablehnen, weil sie ihn nicht verstehen. "Absolutes Kauderwelsch", schimpfen Gegner, und selbst Befürworter wie Andrea Pappins geben zu, dass der Vertrag "keine leichte Gute-Nacht-Lektüre" ist.´

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Wer hat Angst vorm kleinen Mann?

An jene vom Vertragstext überforderten Iren wendet sich Declan Ganley. Der 39-Jährige Unternehmer aus Galway, den vor vier Wochen noch kaum jemand kannte, hat über seine Denkfabrik "Libertas" mit 1,3 Millionen Euro mehr Geld in die Nein-Kampagne gesteckt, als alle etablierten politischen Parteien zusammen für ihre Ja-Propaganda ausgegeben haben. "Niemand würde einen Vertrag unterschreiben, den er nicht gelesen hat und den er nicht versteht", argumentiert er. Sein Rat an die Wähler: "Wenn ihr etwas nicht kennt, sagt nein."

Ganley, der sich als überzeugten Europäer bezeichnet, sieht durch den Lissabonner Vertrag die Demokratie in Europa gefährdet. "Wir kriegen einen Präsidenten für Europa, der von keinem gewählt ist", empört er sich. "Wie sollen wir unter diesen Umständen mit dem Premierminister von China über Demokratie reden." Nicht überall kommt Ganley an, das liegt nicht nur an seinem für irische Ohren unangenehmen englischen Akzent. Für manche ist seine Reputation so angekratzt wie die Rolex an seinem Handgelenk. Denn niemand weiß, woher sein Vermögen kommt und wer ihn unterstützt.

Europaminister Roche munkelt etwas von "Interessen außerhalb Europas, die Europa zerstören wollen" und empfiehlt die Lektüre einschlägiger neokonservativer Websites in den USA. Es ist bekannt, dass Ganley einen Wohnsitz in Washington unterhält und dass er Aufträge vom Pentagon erhalten hat. Er selbst lacht über solche Verschwörungstheorien: "Was kommt als Nächstes? Dass ich für Marsmenschen arbeite?"

Neinsagen als Reflex

Ganley allein kann freilich nicht den Meinungsumschwung in der irischen Öffentlichkeit bewirkt haben. Doch die Frage, weshalb die Iren sich gegen Europa wenden, löst weitgehend Ratlosigkeit aus. Manche versuchen sich in phänotypischen Erklärungen des irischen Nationalcharakters. "Iren lieben es, alles zu Tode zu diskutieren", spricht sich ein Diplomat Mut zu. "Sie geraten in Streit darüber, welche von zwei Fliegen als Erste die Zimmerdecke erreicht hat." Einer seiner Kollegen bemerkt, dass "Iren wie im Reflex Neinsager sind: Selbst wenn man uns fragen würde, ob wir monatlich 10000 Euro geschenkt haben wollen, würden 20 Prozent erst einmal ablehnen".

Der Wahrheit näher kommt vermutlich Minister Roche - wenn auch eher unfreiwillig. So wie er da berstend vor Selbstbewusstsein und gekränkter Eitelkeit an einem glänzend polierten Verhandlungstisch im Amtssitz des Premierministers thront, verkörpert er den Inbegriff des entrückten Politikers. Er finde nicht, sagt er, dass er, seine Partei-, Parlaments- oder Kabinettskollegen Fehler begangen hätten bei ihren Bemühungen, dem Wahlvolk den Lissabonner Vertrag zu verkaufen. Was die Gegner der Vorlage angehe, nun, jeder wisse, "dass es leichter ist mit einem Hammer ein Meisterwerk von Leonardo zu zerschmettern als ein neues zu schaffen". Und leider gingen die Wähler auch noch den durchsichtigsten Lügen der Neinsager auf den Leim. Hilfreich übersetzt Declan Ganley diesen Satz in einfaches Englisch: "Die politische Führung hält die Wähler für Idioten."

Diese Wähler sind zurzeit sowieso nicht gut auf die Politik zu sprechen. "Der Grund ist die allgemeine wirtschaftliche Malaise", analysiert der Dubliner Diplomat die Lage. "Die Leute stehen morgens auf und denken: Mein Haus ist heute weniger wert als gestern, der Sprit wird teurer, und mein Job ist auch nicht mehr sicher. Es juckt sie, der Politik vors Schienbein zu treten, und das Referendum ist die beste Gelegenheit dafür. Es ändert zwar nichts, aber man fühlt sich kurzfristig besser." Ähnlich sieht es Andrea Pappin. "Wir haben Europa immer nur mit ökonomischen Argumenten verkauft, aber das funktioniert angesichts der Krise nicht mehr", sagt sie. Es sei höchste Zeit, den Iren zu erklären, dass Europa für mehr steht als für blanken Materialismus: "Egal wie das Referendum ausgeht, unsere eigentliche Arbeit beginnt am Tag darauf." Das wäre dann am Freitag. Freitag, dem dreizehnten.

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