Naher Osten:Der Irak schlittert in einen Bürgerkrieg

Kurdish Peshmerga clash with Shiite militia

Kurdische Peschmerga kämpfen 175 Kilometer nördlich von Bagdad gegen eine schiitische Miliz. Der mehrere Tage dauernde Zusammenstoß Ende April soll neun Menschen das Leben gekostet haben.

(Foto: dpa)

Die Terrormiliz Islamischer Staat hat einige Gebiete in dem Land verloren. Doch sicherer ist der Irak deshalb nicht geworden. Ihm fehlt die politische Führung.

Kommentar von Paul-Anton Krüger

Eine Zahl soll Hoffnung machen an einem der blutigsten Tage, die der Irak in den vergangenen zwölf Monaten erlebt hat. Nur noch 14 Prozent des Territoriums kontrolliere die Terrormiliz Islamischer Staat (IS), so verkündete es die Regierung, nachdem die Dschihadisten am Mittwoch in Bagdad mit Bomben mehr als 90 Menschen ermordet hatten.

Es gab eine Zeit, da herrschte der IS über mehr als 40 Prozent der Fläche des Irak, nachdem er das Land im Sommer 2014 zu guten Teilen überrannt hatte. Und die 14-Prozent- Zahl erscheint sehr optimistisch, US-Außenminister John Kerry sprach jüngst davon, die Iraker hätten 40 Prozent der einst verlorenen Gebiete zurückerobert.

Tatsächlich ist es gelungen, den IS zurückzudrängen: Tikrit wurde 2015 befreit, Ramadi in diesem Jahr. Einige IS-Anführer wurden getötet, der Reichtum der Miliz wurde durch Bombardements von Geldlagern und Ölanlagen dezimiert. Allerdings hatte die Terrormiliz viele Gebiete nur erobern können, weil die irakische Armee davonlief. Vielerorts herrschte der IS zudem über Wüste, er kontrolliert dort nicht viel mehr als die Verkehrswege.

Seine Fähigkeit zu verheerenden Anschlägen hat der IS nicht verloren

Die Offensive der irakischen Regierung zur Befreiung der Metropole Mossul "noch in diesem Jahr" ist zum Stehen gekommen, die Schlacht um Falludscha steht erst noch bevor. Die Amerikaner verlegen zusätzliche Soldaten und Hubschrauber für den Kampf gegen den IS in den Irak - nicht weil es dort so gut läuft, sondern weil so wenig vorangeht. Um Bagdad wird seit Monaten eine Mauer gebaut, um das Einsickern von Terroristen zu verhindern. Denn seine Fähigkeit zu verheerenden Anschlägen hat der IS ebenso wenig verloren wie die Kerngebiete seines selbst ausgerufenen Kalifats. Einen schnellen Sieg gegen die Terrormiliz lässt all das nicht erwarten.

Andere Zahlen zeigen das wahre Problem: 2016 starben im Irak jeden Monat laut den UN im Schnitt mehr als 840 Menschen an den Folgen von Terrorismus und Gewalt - die Kriegsgebiete nicht mitgerechnet. Unabhängige Analysten dokumentieren allein mehr als 1000 getötete Zivilisten jeden Monat. Das heißt: Die Erfolge gegen den IS bringen den Menschen nicht mehr Sicherheit.

Das Land ist zudem in der schwersten Krise, seit Premier Haidar al-Abadi im August 2014 sein Amt angetreten hat. Die Regierung ist gelähmt durch Klientelwirtschaft und Korruption, zudem durch einen Machtkampf zwischen schiitischen Parteien und Schiiten-Prediger Muktada al-Sadr, der in der Erstürmung der Grünen Zone und des Parlaments durch seine Anhänger gipfelte.

Milizen, teils von Iran gesteuert, treiben den Premier vor sich her. Der Staat ist wegen der niedrigen Ölpreise quasi pleite, ebenso übrigens die kurdische Regionalregierung im Norden. Es stehen der Fastenmonat Ramadan bevor und die Gluthitze des Sommers. Die Menschen leiden dann noch mehr unter den Versorgungsengpässen und Sicherheitsproblemen.

Die Stunde der Terrormiliz schlägt, wenn Chaos und Verwirrung herrschen

Dieses Staatsversagen führt dazu, dass sich die Menschen jenen zuwenden, von denen sie sich am ehesten eine Besserung ihrer Lage versprechen. Im Irak geschieht dies maßgeblich entlang der konfessionellen und ethnischen Bruchlinien zwischen Schiiten, Sunniten und Kurden. Ein Auseinanderbrechen des Landes wird damit wahrscheinlicher; die Kurden bereiten ein Unabhängigkeitsreferendum vor.

Der IS versucht, den Zerfall des Staates herbeizubomben. Es war kein Zufall, dass die Dschihadisten Sadr-City attackierten, benannt nach dem Vater des Predigers, der eine Reform der Regierung und ein Technokraten-Kabinett fordert. Der IS versucht, den Funken zu schlagen, der einen neuen Bürgerkrieg entzündet. Die Stunde der Terrormiliz schlägt, wenn Chaos und Konfusion herrschen. Und an Chaos und Konfusion mangelt es nicht im Irak.

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