Interview über junge Ukrainer:Sie glauben an Europa, aber nicht an seine Regeln

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Junge Ukrainer verstehen nicht, nach welchen Regeln Europa funktioniert.

(Foto: AFP)

Junge Ukrainer sind bereit, für Europa zu sterben - nicht jedoch, nach seinen Regeln zu leben, sagt der ukrainische Philosoph Volodymyr Yermolenko im Interview. Trotzdem könne die Europäische Union viel von ihnen lernen.

Von Hannah Beitzer, Kiew

Sie gehen für Europa auf die Straße, verstehen jedoch nicht dessen Regeln, schreibt der ukrainische Philosoph Volodymyr Yermolenko in seinem Artikel "Träume von Europa" über die Aktivisten des Euromaidan. Im Interview spricht er über die europäische Idee, die Bedeutung von Gesetzen und Institutionen für Europa und was den aufkommenden ukrainischen Nationalismus zum Problem macht.

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SZ: Herr Yermolenko, Sie schreiben: Junge Ukrainer sind bereit, für Europa zu sterben, nicht jedoch, nach seinen Regeln zu leben. Was meinen Sie damit?

Yermolenko: Meiner Meinung nach gibt es zwei Europas. Die Europäische Union ist ein "Europa der Regeln". Die Menschen folgen seinen Gesetzen, glauben aber nicht länger an die Idee, auf der Europa basiert. Sie haben die Leidenschaft verloren. Auf der anderen Seite gibt es in den osteuropäischen Länder wie der Ukraine ein "Europa des Glaubens": Die Leute hier glauben an Europa, verstehen jedoch nicht, dass man auch Regeln befolgen muss, damit die Idee Realität werden kann.

Inwiefern?

Europäische Diplomaten sind zum Beispiel oft schockiert, wie das ukrainische Parlament arbeitet. Da kommt irgendeine Gruppe an die Macht und ändert die Verfassung, wie sie es will. Dann kommt die nächste Gruppe und macht es wieder anders. Sobald ein Akteur in der ukrainischen Politik die Bühne betritt, gleicht er die Regeln an seine Interessen an. In der EU halten sich die Akteure meistens an die Regeln, die es schon gibt. Die Europäer sagen oft zu uns: Ihr sollt nach den Regeln spielen, nicht mit den Regeln. Trotzdem kann Europa viel von uns lernen. Die beiden Europas - das "Europa der Regeln" und das "Europa des Glaubens" - brauchen einander.

Was kann Europa von der Maidan-Bewegung lernen?

Gerechtigkeit, Rechtmäßigkeit, der Kampf gegen Korruption - das ist für Leute aus der EU alles selbstverständlich. Deswegen empfinden sie auch keine Leidenschaft mehr für die europäische Idee. Europa braucht aber genau diese Leidenschaft zum Überleben. Die Erkenntnis, dass es ein Land wie die Ukraine gibt, wo die Leute für diese Idee auf die Straße gehen, hat in Europa viele überrascht.

Im Konflikt mit Russland werfen viele der Europäischen Union Schwäche vor. Hat die EU die Ukraine enttäuscht?

Die Leute hier verstehen manchmal nicht, wie in Europa Entscheidungen gefällt werden. Sie neigen dazu, die EU zu personifizieren, wie sie es von hier gewohnt sind. Sie denken, dass die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel oder der franzöische Präsident François Hollande dort genauso Entscheidungen fällen können, wie das Putin in Russland macht. Das ist natürlich nicht der Fall, die Prozesse dort sind ganz anders.

Nicht alle Ukrainer wünschen sich einen proeuropäischen Kurs - im Osten des Landes wollen viele Bewohner eine engere Bindung an Russland...

In 20 Jahren wird es dort ganz anders aussehen, weil junge Menschen in Donezk heute schon ähnlich denken wir junge Menschen in Kiew. Das ist eher ein Generationenkonflikt als ein Ost-West-Konflikt. Natürlich ist nicht jeder Teenager in Donezk proeuropäisch. Aber auch im Osten der Ukraine ist Umfragen zufolge die Unterstützung von Europa unter jungen Menschen höher als unter alten. Das ist in Kiew übrigens auch so. Was nicht heißt, dass die Ukraine dann auch sofort formell zu Europa gehören wird. Die europäische Idee bewegt sich immer schneller als die dazugehörige Institutionalisierung. Nehmen Sie Zentraleuropa: Da fing die gesellschaftliche Veränderung schon mit dem Prager Frühling von 1968 an. Das hat sich ausgebreitet, bereits in den 1970er Jahren hörten die Menschen in Tschechien oder Polen auf, an die Sowjetunion zu glauben. Der tschechische Schriftsteller Milan Kundera hat schon 1984 in einem Essay geschrieben, dass die Länder Mitteleuropas eigentlich dem Westen "gestohlen" wurden, also nicht zum sowjetischen Osten, sondern zu Europa gehören. Es hat dann aber viele Jahre gedauert, bis sie tatsächlich EU-Mitglieder wurden.

In ihrem Essay "Träume von Europa" kritisieren Sie Kunderas Konzept vom "gestohlenen Westen". Warum?

Kundera schrieb, dass Länder wie Polen, Tschechien und die Slowakei zwar formal zum Ostblock gehörten, aber eigentlich westliche Traditionen und Werte hätten. Damals war das bahnbrechend. Heute führt es zu einem Problem für uns: Kundera hat einfach einen neuen eisernen Vorhang eingezogen, der weiter östlich verlief als der alte und gesagt: Holt Mitteleuropa zu Euch, aber alle, die draußen sind - zum Beispiel die Ukraine - können bleiben, wo sie sind. Inzwischen ist aber klar, dass sich die europäische Idee immer weiter bewegt und nicht an Grenzen Halt macht.

Der Maidan-Bewegung wird heute vorgeworfen, sie bereite Nationalisten den Weg an die Macht...

Der Westen tendiert dazu, die Bedeutung rechter Kräfte in der Ukraine zu überschätzen. Wenn wir uns nur mal die Umfragen zur Präsidentschaftswahl anschauen: Die nationalistischen Kandidaten Oleg Tiagnibok von der Partei Swoboda und Dmitrij Jarosch vom Rechten Sektor kommen zusammen auf nicht einmal drei Prozent der Stimmen. Vergleichen Sie das mal mit den Umfragewerten des Front National in Frankreich oder der Jobbik in Ungarn! Außerdem gibt es einen wichtigen Unterschied zwischen ukrainischem Nationalismus und dem Faschismus etwa von Nazi-Deutschland. Es geht den ukrainischen Nationalisten nicht um die Ausdehnung der Einflusssphäre, wie das zum Beispiel auch bei Putin der Fall ist. Es geht schlicht um die Verteidigung. Das ist in den meisten kleinen Ländern so. Die Schwachen haben das Gefühl, sich gegen einen Starken verteidigen zu müssen.

Dennoch schreiben Sie: Der ukrainische Nationalismus ist ein Problem. Warum?

Er verstellt den Blick darauf, dass es auf dem Maidan nicht um eine nationale, sondern eine globale Idee ging, nämlich um die Würde des Menschen, um Demokratie. Dieses Problem haben aber viele kleinen Nationen, die unterdrückt wurden oder werden: Sie denken an den Kampf gegen ihren größten Feind - und das ist es. Ihnen fehlt die Fähigkeit zu globalem Denken. Wer so denkt, der macht die Maidan-Bewegung kleiner, als sie ist.

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