Interview:"Scham ist am Ende tödlich"

Joachim Lenz

Joachim Lenz, 56, ist seit 2015 Direktor der Berliner Stadtmission, einem der größten sozialen Träger Berlins. Der Pfarrer verantwortet zahlreiche Projekte für Wohnungslose, Flüchtlinge und Straffällige.

(Foto: Ortrud Wolhwend)

In den vergangenen Jahren ist es nicht leichter geworden, Obdachlosen zu helfen. Viele Ehrenamtliche versuchen es dennoch.

Von Anna Dreher

SZ: Herr Lenz, die Zahl der Menschen, die keine eigene Wohnung haben oder gänzlich auf der Straße leben, nimmt zu. Wie hat sich deren Lage verändert?

Joachim Lenz: Es ist eine Art Zweiklassengesellschaft auf der Straße entstanden, das hat natürlich Auswirkungen auf das Zusammenleben. Die Anzahl der Menschen aus dem Ausland ist gewachsen, was in Berlin auch an der immensen Sogwirkung der Stadt liegt. Zu uns kamen 2016 Bedürftige aus 81 Nationen, der Großteil spricht kaum Deutsch. Viele kommen aus Polen, Rumänien, Bulgarien oder Russland, manche in der Hoffnung, hier Arbeit zu finden. Und nicht alle haben die gleichen Rechte. Während EU-Bürger einen Anspruch auf Hilfeleistung haben, darf zwar das Leben von Nicht-EU-Bürgern gerettet, aber keine ambulante Versorgung geleistet werden.

Führt das zu mehr Konflikten?

Rivalitäten gab es auch auf der Straße schon immer. Früher war es dann halt der Ur-Berliner, der keine Sachsen in seiner Stadt haben wollte. Vor zwei Jahren, als die große Zahl der Flüchtlinge nach Deutschland kam, haben auch unter den Obdachlosen manche gesagt: Die nehmen uns jetzt alles weg. Wenn wir gefragt haben, wo habt ihr Nachteile, geht es euch schlechter, kam immer als Antwort: Nö. Aber wenn mehr Menschen in einer ausweglosen Situation leben, steigt nun mal das Gewaltpotenzial. Es ist mehr Frust da, mehr Aggression. Der Ton ist rauer geworden.

Weil jetzt Menschen aus anderen Gründen auf der Straße leben als früher?

Vom Klischee des freundlichen deutschen Penners mit Schlapphut, Hund und Weinflasche in der Hand, der fröhlich auf der Straße lebt, ist jedenfalls nichts übrig geblieben. Das Leben auf der Straße ist hart. Die Gründe, warum viele Menschen keine andere Chance haben oder sehen, sind ganz unterschiedlich. Die meisten rutschen nach einer biografischen Katastrophe oder aufgrund psychischer Probleme in die Obdachlosigkeit ab. Und wenn man erst mal ganz unten angekommen ist, geht es schnell, dann gibt man sich auf.

Aber gerade am Anfang kämpfen viele Betroffene doch sicher mit viel Energie gegen ihre Obdachlosigkeit.

Natürlich gibt es viele, die versuchen, Geld zu verdienen und in ein geordnetes Leben zurückzukommen. Manche schreiben jeden Tag Bewerbungen und suchen Wohnungen. Aber das alles ist als Obdachloser eben nicht leicht. Es gibt ja auch viele Vorurteile und diffuse Ängste in der Gesellschaft. Und wenn dann eine Bewerbung nach der anderen abgelehnt wird, verliert man irgendwann den Mut.

Lassen sich diese Menschen dann noch helfen, oder ist es irgendwann zu spät?

Wir bekommen Obdachlose oft nicht dazu, sich helfen zu lassen, weil sie sich so schämen. Das ist in den unterschiedlichsten Phasen so. Manche verschwinden bei Beratungsgesprächen aus Wartezimmern oder wollen nicht duschen, weil sie anderen nicht zumuten wollen, wie sie aussehen. Unsere Ehrenamtlichen sehen Menschen, die bei lebendigem Leibe verfaulen. Scham ist am Ende tödlich. Diejenigen, die sich helfen lassen, müssen nach jahrelanger Obdachlosigkeit erst wieder lernen, in einer Wohnung zu leben, Wäsche zu waschen, mit Geld und anderen Menschen umzugehen. Manchmal erleben wir dabei aber schöne Überraschungen.

Zum Beispiel?

Eine Sozialarbeiterin ist mit einem Mann zur Bank, um ein Konto für ihn zu eröffnen. Die Angestellte meinte dann, er habe doch längst ein Konto - mit 80 000 Euro drauf. Er hatte das schlichtweg vergessen, weil er dement war.

Wie hat sich der gesellschaftliche Blick auf Obdachlosigkeit verändert?

Inzwischen sind Obdachlose sichtbarer, weil es mehr Orte gibt, wo sich große Gruppen sammeln. In der Bevölkerung wird das häufig als bedrohlich wahrgenommen. Das ist von großer Unruhe und Unwohlsein begleitet. Viele haben das Gefühl, da ist was aus dem Ruder gelaufen. Man kann Obdachlose aber nicht einfach entfernen oder, wie es schon von Berliner Politikern gefordert wurde, abschieben. Dazu gibt es keine Rechtsgrundlage. So was löst natürlich heftige gesellschaftliche Debatten aus.

Was würde stattdessen helfen?

Das ist am Ende eine finanzielle Frage. Wir bräuchten mehr Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, und wir brauchen mehr kleine Wohnungen, aber die sind natürlich am gefragtesten in Berlin, weil sie noch bezahlbar sind. Es ist aber auch nicht alles schlecht. Die Zahl der Ehrenamtlichen ist gestiegen, das ist atemberaubend. Es gibt Ideen, und der Wille ist vorhanden. Man kann das Problem ja nicht mehr übersehen. Es kommt was in Bewegung, und ich bin gespannt, wie diese Entwicklung weitergeht.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: