Interview mit Rachid Ghanouchi:"Der Islam ist vereinbar mit Demokratie und Freiheit"

Keine Angst vor En-Nahda! Diese Botschaft verbreitet Rachid Ghanouchi seit dem Wahlsieg seiner moderat islamistischen Partei in Tunesien. Für ihn ist En-Nahda vergleichbar mit der CDU oder der türkischen AKP. Ein Gespräch über die wichtigsten Ziele des Wahlsiegers, die Rolle der Frau im Islam - und die Frage, weshalb der Name des Ex-Diktators Ben Ali aus allen Schulbüchern ausradiert wurde.

Matthias Kolb

Tunesien ist der Vorreiter der arabischen Welt. Hier begann im Dezember 2010 mit den Protesten gegen Alleinherrscher Ben Ali der arabische Frühling und hier fanden am 23. Oktober die ersten demokratischen Wahlen in der Region statt. Stärkste Kraft in der am Dienstag beginnenden verfassungsgebenden Versammlung ist die moderat islamistische En-Nahda-Partei von Parteichef Rachid Ghanouchi (gesprochen Raschid Ranuschi), sie erhielt 89 von 217 Sitzen. Derzeit verhandelt Ghanouchi momentan mit zwei säkularen Parteien über eine Koalition.

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Rachid Ghanouchi, der Gründer der En-Nahda-Partei.

(Foto: AFP)

Der 70-Jährige wurde bereits von Habib Bourguiba, Tunesiens erstem Präsident, zu Haft, Zwangsarbeit und sogar zum Tode verurteilt. Obwohl er der Gewalt, für die er Anfang der Achtziger warb, abgeschworen hat und die Türkei als Vorbild nennt, halten liberale Tunesier Ghanouchis öffentlichen Reden für Verschleierungsversuche. Sie erinnern etwa daran, dass er einst Selbstmordattentäter der Hamas gelobt hat. Das Interview mit einer Gruppe deutscher Journalisten findet im fünften Stock der Parteizentrale von En-Nahda statt. Ghanouchi, den seine Anhänger ehrfürchtig Scheich nennen, zieht es vor, seine arabischen Antworten übersetzen zu lassen - dabei lebte er 20 Jahre im Exil in London.

sueddeutsche.de: Herr Ghanouchi, Ihre Partei En-Nahda hat bei der ersten freien Wahl nach der Revolution in Tunesien die meisten Stimmen erhalten. Sie haben die westlichen Demokratien wegen des Kapitalismus kritisiert und plädieren für eine islamische Demokratie. Wie soll diese aussehen?

Rachid Ghanouchi: Wir wollen ein demokratisches System einführen, das die Regeln der Demokratie und die islamischen Werte berücksichtigt. Das wird ähnlich aussehen wie bei den christdemokratischen Parteien in Europa.

sueddeutsche.de: Haben Sie mit dem Sieg Ihrer Partei gerechnet?

Ghanouchi: Ich war nicht überrascht von unserem Ergebnis, auch wenn das Wahlsystem die Zahl der Sitze für En-Nahda noch begrenzt hat. Wir sind kein neues Phänomen, sondern eine 40 Jahre alte Partei. Viele unserer Mitglieder haben unter dem alten Regime gelitten und waren im Gefängnis.

sueddeutsche.de: Welches ist die größte Herausforderung für En-Nahda und ihre Koalitionspartner?

Ghanouchi: Ganz klar: Wir müssen die Arbeitslosigkeit reduzieren.

sueddeutsche.de: Welche Rolle soll die Religion in den Augen der Tunesier in Zukunft spielen?

Ghanouchi: Der Islam ist eine großartige Energie. Tunesien ist in der Vergangenheit gescheitert, weil das vorherige Regime diese positiven Kräfte nicht aktiviert hat. En-Nahda möchte, dass Ehrlichkeit und Wahrheit in die Familien und in die Gesellschaft zurückkehren.

sueddeutsche.de: Sind die Tunesier in Ihren Augen religiös genug?

Ghanouchi: Die Ausübung der Religion ist eine private Angelegenheit. Der Staat hat sich um den Wohlstand und die Versorgung der Bürger zu kümmern. Unsere Partei ist dagegen, Frauen das Tragen eines Schleiers vorzuschreiben, doch genauso wenig halten wir von einem Kopftuchverbot. Jede Frau muss diese Frage selbst für sich entscheiden.

sueddeutsche.de: Im Westen sind viele Menschen dennoch besorgt, dass Ihre Partei die Rechte der Frauen beschneiden oder den Konsum von Alkohol einschränken könnte. Kritiker werfen Ihnen Doppelzüngigkeit vor. Wie wollen Sie den Islam in Ihre Politik integrieren?

Ghanouchi: Im Westen sind Vorurteile dem Islam gegenüber leider sehr weit verbreitet. Viele Journalisten denken, dass Islam für Unterdrückung steht und nicht mit Menschenrechten und Freiheit vereinbar ist. Diese Sicht ist nicht richtig. Es gibt keine Kirche im Islam, weshalb es sehr verschiedene Interpretationen gibt. Wir glauben an einen Islam, der mit Demokratie und Freiheit vereinbar ist.

sueddeutsche.de: Was ist diese Kraft des Islams, die Sie nutzen wollen?

Ghanouchi: Da ist etwa der Gedanke der Wohlfahrt, des zakat. Der Islam sieht vor, dass Reiche einen Teil ihres Einkommens an Bedürftige spenden. Das vorherige Regime hat das Sozialwesen monopolisiert und den zakat verboten. Wir wollen diese Werte in unsere Sozialpolitik einbinden.

sueddeutsche.de: Sie sind Vorsitzender der En-Nahda und haben bei Ihrer Rückkehr erklärt, dass Sie kein Amt in der neuen Regierung übernehmen und auch nicht Präsident werden wollen. Welche Rolle wollen Sie in der Zukunft in Ihrem Land spielen?

Ghanouchi: Ich habe versprochen, dass ich weder in der Regierung noch als Abgeordneter eine offizielle Position einnehmen werde. Dabei bleibt es. Die Revolution ist die Errungenschaft der jungen Tunesier. Menschen mit schwarzem Haar waren die treibende Kraft des Aufstands, nicht die Alten mit weißem Haar. Ich bin überzeugt, dass wir auf einem stabilen Weg in Richtung Demokratie sind und sehe meine Rolle außerhalb der politischen Sphäre als intellektueller Ratgeber. Ich möchte wieder als Religionsgelehrter wirken, denn die islamische Welt ist größer als Tunesien.

"In der En-Nahda besteht kein Raum für Islamismus"

sueddeutsche.de: Werden Sie sich dafür einsetzen, dass sich die En-Nahda nicht radikalisiert?

Ghanouchi: In der En-Nahda besteht kein Raum für Islamismus. Diese Strömungen konnten in Tunesien nur während unserer Abwesenheit und durch Einflüsse von außen entstehen. Der Islam, den wir in Tunesien praktizieren, hat nichts mit Unterdrückung zu tun und es gibt keine Rechtfertigung für eine Radikalisierung.

sueddeutsche.de: Die Tunesier diskutieren viel über die Salafisten. Wie stehen Sie dieser radikalen Gruppierung gegenüber?

Ghanouchi: Die Salafisten konnten nur in Abwesenheit der En-Nahda entstehen, die einen moderaten Islam vertritt. Wir können in Tunesien nun zu einem Zustand zurückkehren, den ich als den Normalzustand bezeichnen würde: Ein Tunesien und eine En-Nahda ohne Radikale.

sueddeutsche.de: Werden die Salafisten als Partei zugelassen, wenn die En-Nahda Teil der neuen Regierung ist?

Ghanouchi: Es gibt keinen Grund, irgendjemanden auszuschließen, solange dieser keine Gewalt oder Unterdrückung ausübt.

sueddeutsche.de: Die En-Nahda hat viele Beobachter mit einer sehr professionellen Organisation im Wahlkampf beeindruckt. Wie finanziert sich die Partei: über Mitgliedergebühren, Spenden aus dem Ausland oder durch Hilfe aus der Diaspora?

Ghanouchi: Wir profitieren von dem Milieu, in dem wir uns bewegen. Andere tunesische Parteien verfügen über sehr viel Geld und hatten dennoch keinen Erfolg bei den Wahlen. Unsere Mitglieder haben fünf Prozent ihres Einkommens der Partei gespendet. Das war für sie keine Frage. Unter ihnen finden sich Geschäftsleute und Anwälte. Sie haben die Partei mitfinanziert.

sueddeutsche.de: Welche Rolle spielt Freiwilligenarbeit für die En-Nahda?

Ghanouchi: Dies ist sehr wichtig, denn wir verstehen uns als Wohlfahrtspartei. Fast niemand bezieht für seine Parteiarbeit Gehalt. Außerdem sind wir sehr stark in der Mobilisierung. Unsere Mitglieder haben die potentiellen Wähler mehrmals zu Hause aufgesucht und für En-Nahda geworben. Das ist mehr wert als mehrere Millionen Dinar.

sueddeutsche.de: Der frühere Diktator Ben Ali hat das Land verlassen, aber viele Mitglieder seiner Partei arbeiten noch immer in Schlüsselpositionen. Wie gehen Sie mit dieser Situation um?

Ghanouchi: Es liegt in der Verantwortung der Justiz, sich um diese Fragen zu kümmern. Uns liegt viel daran, den Justizsektor zu reformieren, damit er dieser Aufgabe nachkommen kann.

sueddeutsche.de: Der Geheimdienst hat über Jahrzehnte Informationen über die Bürger angehäuft. Wollen Sie diese Fälle untersuchen beziehungsweise die Akten öffentlich zugänglich machen?

Ghanouchi: Alle Akten werden öffentlich zugänglich sein, aber wir werden als Regierung keine Strafen verhängen. Das wird Sache der Justiz sein.

sueddeutsche.de: In Deutschland gibt es die Stasi-Unterlagenbehörde. Planen Sie die Einrichtung einer ähnlichen Institution?

Ghanouchi: Das ist eine sehr sensible Angelegenheit, die wir mit unseren politischen Partnern angehen werden. Es geht darum, Übergangsgerechtigkeit zu schaffen, das heißt also vergangenes Unrecht zu bestrafen und damit gleichzeitig neue Normen zu etablieren.

sueddeutsche.de: In den Schulbüchern ist Ben Alis Name ausradiert worden. Ist dies der richtige Ansatz, mit der Vergangenheit umgehen?

Ghanouchi: Ben Ali erinnert die Tunesier an den dunkelsten Teil ihrer Geschichte. Sie wollen sich mit diesem Namen nicht mehr beschäftigen. Es gibt bestimmte Orte, also Paläste oder Gefängnisse, die an diese Phase der tunesischen Geschichte erinnern, damit sie nicht in Vergessenheit gerät.

"Ich möchte den Europäern danken"

sueddeutsche.de: Unter welchen Umständen mussten Sie Tunesien verlassen?

Ghanouchi: Ich bin nach den Wahlen 1989 ausgereist. Damals hatte Ben Ali den Sieg an sich gerissen, die eigentliche Gewinnerin war die En-Nahda. Zu dieser Zeit erhielt ich eine Einladung aus Köln von der Studentengewerkschaft, die mich zu einer Konferenz nach Deutschland einlud. Ich war eigentlich aufgebrochen, um drei Tage zu bleiben. Daraus wurden dann 23 Jahre im Exil.

sueddeutsche.de: Und weshalb sind Sie nach London gegangen?

Ghanouchi: Großbritannien war neben der Schweiz der einzige Ort, der bereit war, mich aufzunehmen. Ben Ali hatte die europäischen Länder überzeugt, mir die Einreise zu verweigern. Ich bin 1997 noch einmal nach Deutschland gereist für eine Kulturveranstaltung, die andere Exil-Tunesier dort organisiert hatten. Die Polizei arbeitete mit Ben Ali zusammen und nahm mich zwar fest, aber mir ist die Flucht gelungen. Ich stand jahrzehntelang auf der Fahndungsliste von Interpol. Mich hat diese Erfahrung gelehrt, dass man politische Flüchtlinge nicht wie Kriminelle behandeln und Diktatoren damit in die Hände spielen darf.

sueddeutsche.de: Wie fühlte es sich an, nach so langer Zeit in Ihre Heimat zurückzukehren?

Ghanouchi: Ich möchte an dieser Stelle den Europäern danken, die mindestens 2000 tunesischen Exilanten Zuflucht gewährt haben. Ungefähr so viele En-Nahda-Mitglieder mussten vor Ben Alis Regime flüchten. Einige von ihnen haben eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung erhalten, andere haben sogar die Staatsbürgerschaft dieser Länder angenommen. Viele von uns haben in Europa studiert, Arbeit gefunden. Dadurch sprechen wir viele unterschiedliche Sprachen.

sueddeutsche.de: Wie wird die Zusammenarbeit mit westlichen Staaten in der Zukunft aussehen? Bis Anfang 2011 hat Europa in der arabischen Welt eng mit Diktatoren kooperiert.

Ghanouchi: Ben Ali hatte keinen Erfolg damit, europäische Länder davon zu überzeugen, dass die En-Nahda eine terroristische Vereinigung ist. Viele En-Nahda-Mitglieder waren in Europa im Exil. Wir hoffen, dass demokratische Staaten nicht mit Diktaturen kooperieren. Denn das Interesse sollte den Menschen gelten und sich an Werten orientieren. Tunesien ist ein vielschichtiges Land, das aufgrund seiner geographischen Lage offen bleiben wird für Europa, Maghreb und den Rest Afrikas.

sueddeutsche.de: Soll Europa beim Wiederaufbau Tunesiens helfen?

Ghanouchi: Wir haben in unserem Wahlprogramm die Partnerschaft mit der Europäischen Union betont und hoffen, diese auch weiter vertiefen zu können.

sueddeutsche.de: Was erwarten Sie von Deutschland?

Ghanouchi: Die Möglichkeiten sind vielseitig. Deutschland ist bei Investitionen, Tourismus oder im Bereich Kultur und Bildung ein sehr wichtiges Land für Tunesien. Es gibt viele tunesische Studenten in Deutschland und wir hoffen, die Zusammenarbeit in diesem Feld ausbauen zu können, um von der weit entwickelten deutschen Technologie und Ökonomie profitieren zu können.

sueddeutsche.de: Das Mittelmeer verbindet Nordafrika und Europa. Haben die europäischen Regierungen Sie bereits gebeten, die Türen für Flüchtlinge zu schließen?

Ghanouchi: Es gibt ein gemeinsames Interesse von Europa und Tunesien, die illegale Migration zu stoppen. Und es gibt dabei ein gemeinsames Interesse, die Demokratisierung voranzutreiben. Eines Tages werden wir möglicherweise sogar Migration von Europa nach Nordafrika erleben (lacht).

sueddeutsche.de: Was bedeutet die tunesische Revolution für Sie persönlich?

Ghanouchi: Die Revolution hat mir ein neues Leben ermöglicht. Und sie hat der En-Nahda und dem ganzen Land ein neues Leben ermöglicht.

sueddeutsche.de: Vor dem Interview haben Sie gebetet. Wofür?

Ghanouchi: Ich habe Gott dafür gedankt, dass er uns die Revolution gebracht hat.

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