Interview mit Murat Kurnaz:"Steinmeier werde ich nicht vergeben"

Murat Kurnaz Guantanamo Häftling

Verbrachte fünf Jahre ohne Verurteilung in amerikanischen Gefangenenlagern und wurde gefoltert: Murat Kurnaz, hier in Bremen

(Foto: Oliver Das Gupta)

Ex-Guantanamo-Häftling Murat Kurnaz über Folter, die Verantwortung des SPD-Kanzlerkandidaten und seinen Plan, Deutscher zu werden. Ein Interview von 2008.

Oliver Das Gupta, Bremen

murat kurnaz ddp

Murat Kurnaz im Sommer 2008

(Foto: Foto: ddp)

Nachtrag 16. Februar 2009: Der Hamburger Regisseur Fatih Akin hat das folgende Interview verfilmt, es ist sein Beitrag zum Gemeinschaftsprojekt "Deutschland 09".

sueddeutsche.de: Herr Kurnaz, Sie reisen oft innerhalb Europas. Was für ein Gefühl ist es, wenn Sie am Flughafen durch eine Sicherheitskontrolle müssen?

Murat Kurnaz: Da gehe ich ganz normal durch. Im Vergleich zu dem, was ich in Guantanamo jeden Tag an Kontrollen erlebt habe, ist das ein Witz. Ganz vergessen haben die Behörden mancher Länder mich nicht. Als ich neulich an einem Londoner Flughafen ankam, haben sie mich rausgezogen. In einem Extra-Raum haben mich die Briten eine Stunde lang verhört.

sueddeutsche.de: Was wollte man von Ihnen wissen?

Kurnaz: Sie haben teilweise sehr komische Fragen gestellt. Zum Beispiel, warum mein Buch "Fünf Jahre meines Lebens" heißt. Dabei ist das doch klar, oder?

sueddeutsche.de: Allerdings. Haben Sie während dieser Befragung Angst gehabt, dass sich die Geschichte wiederholt und Sie gefangen gehalten werden?

Kurnaz: Nein. Inzwischen hatte ich genug Erfahrung, um die beiden Befrager einzuschätzen. Ich konnte sogar mit ihnen spielen, auch wenn sie das Ganze sehr ernst genommen haben. Am Schluss wollten sie wissen, was ich in London mache. Ich war zu einem Fernsehauftritt eingeladen und habe dem Vernehmer gesagt: "Ich kann Sie gerne dort grüßen." Darauf hat er sofort das Namensschild an seiner Uniform mit seiner Hand bedeckt, sich bedankt und abgelehnt. Das Verhör war zu Ende.

sueddeutsche.de: Der Name Murat Kurnaz steht nach wie vor auf einer Verdächtigen-Liste.

Kurnaz: Ja, in ihrem Computer steht natürlich drin, dass ich ein Ex-Häftling aus Guantanamo bin. Sie haben ja sowieso alle möglichen Daten von mir. Vor meiner Entlassung haben die Amerikaner sogar meine Stimme digital aufgenommen und ganz viele Fotos von meinen Augen gemacht. Ich reise übrigens immer noch mit meinem alten Pass, mit dem ich 2001 nach Pakistan geflogen war.

sueddeutsche.de: Diesen türkischen Pass werden Sie vermutlich bald nicht mehr haben - Sie wollen deutscher Staatsbürger werden.

Kurnaz: Es ist noch nicht soweit, aber ich habe es vor.

sueddeutsche.de: Warum tun Sie diesen Schritt?

Kurnaz: Es ist einfach falsch, in Deutschland geboren zu werden, hier aufzuwachsen und zu leben - und einen türkischen Pass zu haben. Das passt einfach nicht zusammen.

sueddeutsche.de: Fühlen Sie sich durch einen deutschen Pass besser geschützt?

Kurnaz: In erster Linie möchte ich mich einbürgern lassen, weil ich Bremer bin. Aber es wäre auch ein besserer Schutz. Man hat ja an meinem Fall gesehen, dass manche Politiker mich wegen meines türkischen Passes nicht aus der Folter geholt haben, obwohl sie die Chance dazu gehabt hätten.

sueddeutsche.de: Die Amerikaner hatten den Deutschen schon 2002 angeboten, Sie freizulassen. Die US-Spezialisten waren - so wie auch ein Team des Bundesnachrichtendienstes - zur Auffassung gelangt: Murat Kurnaz war zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort. Die Entscheidung über Ihre Freilassung oblag dann einer hochkarätigen Runde im Bundeskanzleramt inklusive dem damaligen Amtschef Frank-Walter Steinmeier.

Kurnaz: Die Politiker wollten hören, dass ich supergefährlich und einer von den Taliban bin. Denen ging es nicht darum, mich rauszuholen, sondern sie wollten mich loswerden. Aber die Deutschen, die mich befragt haben, erzählten, dass ich unschuldig bin. Nach außen haben sie alles geheim gehalten - auch, dass sie Kontakt hatten zu mir. Meiner Familie hat die Regierung nur gesagt, dass sie keine Ahnung habe, wie es mir geht und dass sie absolut nichts für mich tun könne.

"Steinmeier musste wissen, dass ich gefoltert werde"

sueddeutsche.de: In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Sie einem hohen pakistanischen Offizier, der Ihnen Handschellen anlegte, niemals vergeben werden, obwohl er sich bei Ihnen entschuldigte. Können Sie den deutschen Entscheidungsträgern verzeihen, die sich damals nicht für Ihre Freilassung einsetzten?

frank walter steinmeier spd dpa

SPD-Kanzlerkandidat Steinmeier

(Foto: Foto: dpa)

Kurnaz: Steinmeier werde ich nicht vergeben, ganz bestimmt nicht. Wenn jemand etwas unbewusst tut, kann man sagen: Es war ihm nicht klar. Aber Steinmeier kann nicht behaupten, dass er damals nicht wusste, dass Menschen auf Guantanamo gefoltert werden. Ich hatte den Deutschen, die mich befragt hatten, erzählt, was im Lager abgeht. Sie haben gehört, in welcher Lage ich bin. Und so haben sie es weitergegeben. Steinmeier musste wissen, dass ich gefoltert werde. Und ihm war klar, dass ich in einem Camp gefangen gehalten werde, ohne ein Gerichtsurteil, einfach so. Allein das hätte doch ausreichen müssen, damit Steinmeier mich rausholt, als er die Chance dazu hatte.

sueddeutsche.de: Mit Ihrem Fall beschäftigen sich zwei Untersuchungsausschüsse, vor denen Sie aussagten. Ebenso traten dort auch Zeugen auf wie Ex-Minister Otto Schily. Der Parteifreund Steinmeiers behauptete, Sie seien mit Kampfstiefeln und einem Kampfanzug nach Pakistan gereist.

Kurnaz: Alles gelogen. Es war eine Outdoor-Hose mit Beintaschen, kein Kampfanzug, und ich hatte auch keine Kampfstiefel, sondern Kangoroo-Boots.

sueddeutsche.de: Schily spottete, mit dem Fernglas, das Sie in Pakistan dabei gehabt haben, wollten Sie wohl Allah suchen.

Kurnaz: Das war ein kleines Fernglas, das mir meine Eltern geschenkt hatten. Ich habe immer ein Fernglas mit, wenn ich reise. Es macht mir einfach Spaß, auf Berge, auf das Meer oder sonstwohin zu gucken. Inzwischen habe ich mir übrigens ein viel größeres gekauft.

sueddeutsche.de: Schily sagte, er halte Ihre Aussagen für "unglaubwürdig".

Kurnaz: Diese Leute kennen die Wahrheit, aber sie stehen für die andere Seite. Das machen die bewusst, da habe ich keine Zweifel. Die Amerikaner haben 2002 meine Freilassung angeboten, weil sie von meiner Unschuld überzeugt waren. Ich wurde ja international verhört, auch von den Türken und von den Russen.

sueddeutsche.de: Von Russen? Davon haben Sie bislang gar nichts erzählt. Wie kam es dazu?

Kurnaz: Sie haben mich 2002 auf Guantanamo ins Verhör geholt. Und dann haben die Leute russisch mit mir gesprochen. Ich habe nichts verstanden, ich wusste nicht einmal, ob mir Fragen gestellt werden. Dann wurden sie sauer und schrien herum. Dann kam ein Usbekisch-Dolmetscher. Und da ich ein bisschen Usbekisch gelernt hatte, habe ich ihn verstanden und konnte ihm antworten. Vielleicht hatten die mich verwechselt.

sueddeutsche.de: Diese Episode haben Sie in früheren Interviews und Ihrem Buch gar nicht erwähnt.

Kurnaz: Es gibt einige kleinere Sachen, die da nicht drin stehen. Es waren ja fünf Jahre, da habe ich nicht alles ins Buch reinschreiben können.

sueddeutsche.de: Es gibt immer noch Leute, die wie Schily glauben, dass Sie gefährlich seien.

Kurnaz: Manche Leute fallen auf diese billigen Tricks von Politikern herein. "Ja, er ist gefährlich". Das geht durch die Medien und schon gibt es Zigtausende Menschen, die das glauben. Es gibt Leute, die das glauben wollen und es gibt Menschen, die sich Gedanken drüber machen und sagen: "Hey, wenn er gefährlich ist, was sucht er in Deutschland? Wieso ist er auf freiem Fuß?" Wenn ich wirklich gefährlich bin, dann machen die Politiker einen großen Fehler, dann sollen sie beweisen, dass ich schuldig bin, mich vor ein Gericht stellen und in den Knast stecken. Aber warum passiert das nicht? Weil ich unschuldig bin.

"Ich würde gerne Menschen in Not helfen"

sueddeutsche.de: Politiker wie Schily haben sich vermutlich auch deshalb so geäußert, weil sie Frank-Walter Steinmeier schützen wollten. Der Außenminister schickt sich immerhin an, Bundeskanzler zu werden.

Kurnaz: Wenn er zum Bundeskanzler gewählt wird, dann kann ich ihn nicht stoppen. Nur: Es ist schon erstaunlich, dass Politiker gewählt werden, die indirekt Folter unterstützen. Dass viele Menschen solchen Politikern noch trauen, ist auch ein bisschen gefährlich. Aber als Einzelner kann ich da nichts ausrichten.

Murat Kurnaz  AP

Murat Kurnaz vor seiner Aussage im Untersuchungsausschuss Anfang 2007

(Foto: Foto: AP)

sueddeutsche.de: In einem Jahr werden Sie Deutscher sein. Dann können Sie sich doch einbringen - indem Sie wählen gehen. Werden Sie an der Bundestagswahl teilnehmen?

Kurnaz: Ja, auf jeden Fall.

sueddeutsche.de: Vor Ihrer Gefangennahme haben Sie sich wenig für Politik interessiert. Hat sich das inzwischen geändert?

Kurnaz: Mein Leben ist ja jetzt auch ein Stück Politik geworden. Aber eigentlich interessiere ich mich immer noch nicht so sehr dafür. Sie gefällt mir nicht so ganz. Ich würde auch niemals Politiker sein können. Denn auch wenn ich ein ehrlicher Politiker wäre, müsste ich mit Politikern arbeiten, die andauernd Lügen erzählen.

sueddeutsche.de: Gerade die rot-grüne Koalition hatte sich die Stärkung der Menschenrechte in der Außenpolitik als Leitbild genommen.

Kurnaz: Das hat mich Herr Steinmeier nicht spüren lassen.

sueddeutsche.de: Herr Kurnaz, mit Geld kann man schlimme Erinnerungen nicht wettmachen, aber es wäre eine symbolische Geste. Erwarten Sie, dass der Staat, der Sie auf Guantanamo hat versauern lassen, Sie nun entschädigt?

Kurnaz: Ich würde eine Entschädigung nicht ablehnen. Wichtiger wäre mir aber eine Entschuldigung gewesen.

sueddeutsche.de: Haben Sie erwartet, dass die deutsche Politik nach Ihrer Rückkehr sagt: Es tut uns leid, wie das gelaufen ist, wir haben einen Fehler gemacht?

Kurnaz: Ja, eigentlich schon. Wobei mir auch klar war, dass sie sich so arrogant verhalten könnten, wie sie es dann auch getan haben.

sueddeutsche.de: Was wollen Sie in Zukunft beruflich machen?

Kurnaz: Ich habe nichts Konkretes vor, aber ich würde gerne mit Jugendlichen arbeiten und Menschen in Not helfen.

sueddeutsche.de: Sie sprechen mit Ihren Eltern nicht über Ihre Zeit in Guantanamo. Warum nicht?

Kurnaz: Das liegt nicht an mir. Ich tue das gerne. Wenn ich mich mit Journalisten darüber unterhalte, warum sollte ich das nicht auch mit meinen Eltern? Sie fragen mich einfach nicht. Das verstehe ich auch. Als Vater und Mutter wollen sie einfach keine Details wissen, wie ich gefoltert worden bin. Sie wollen nicht wissen, wie es sich anfühlt, wenn man aufs Auge geschlagen wird.

sueddeutsche.de: Ihre Mutter sagte nach Ihrer Rückkehr: "Er braucht Hilfe, ich weiß das." Hat sie Recht?

Kurnaz: Ich habe Hilfe gebraucht, als ich in Guantanamo saß. Damals hätten mir solche Leute wie Steinmeier helfen können. Heute brauche ich keine Hilfe, ich bin ein freier Mensch.

"Tausende Amerikaner haben mir Briefe geschrieben"

sueddeutsche.de: Die meisten Folteropfer brauchen psychologische Hilfe, weil sie traumatisiert sind.

Kurnaz: Das stimmt. Jemand, mit dem ich mich im Lager angefreundet hatte, ist jetzt auch wieder frei. Aber er redet nicht mehr, nicht mal mehr mit seinen Eltern. Er ist psychisch total kaputt. Es gibt viele Ex-Häftlinge, die Probleme haben.

sueddeutsche.de: Das System Guantanamo ist offenbar auch darauf ausgerichtet, die Insassen zu brechen. Bei Ihnen hat das nicht gegriffen. Wie erklären Sie sich das?

guantanamo camp delta dpa

Rechtsfreie Zone in Guantanamo Bay: Ein Wächter läuft durch einen Zellenblock von Camp Delta

(Foto: Foto: dpa)

Kurnaz: Auf jeden Fall hat mir mein Glaube viel geholfen. Im Islam ist es wichtig, geduldig zu sein und sich zu beherrschen in schlimmen und auch in guten Situationen. Aber wie ich das alles überstanden habe, das frage ich mich manchmal auch.

sueddeutsche.de: Träumen Sie hin und wieder von Guantanamo?

Kurnaz: Seltsamerweise gar nicht. Meistens träume ich von Essen, das ich gerne mag. Manchmal würde ich gerne vom Lager träumen, weil ich manche Gefangenen vermisse, mit denen ich Freundschaft geschlossen habe. Weil ich dort war, verstehe ich einige Dinge heute viel besser.

sueddeutsche.de: Was zum Beispiel?

Kurnaz: Wenn ich im Fernsehen einen Film über Hunger in Afrika sehe. Früher war ich kurz betroffen, aber das war's dann auch. Kurze Zeit später hatte ich es vergessen, wie die meisten Menschen. Wenn ich heute Menschen sehe, die nichts zu essen habe, dann tun die mir viel mehr leid. Im Lager habe ich Hunger und Durst durchgemacht.

sueddeutsche.de: Herr Kurnaz, Sie sind kurz nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 nach Pakistan geflogen. War es im Nachhinein naiv, diese Reise anzutreten?

Kurnaz: Der Krieg in Afghanistan hatte ja damals noch nicht begonnen und außerdem bin ich ja nach Pakistan geflogen. Da war damals alles friedlich. Aber eins ist auch klar: Heute würde ich es nicht mehr machen.

sueddeutsche.de: Würden Sie heute in die USA reisen?

Kurnaz: Ja, würde ich sehr gerne. Mich reizen aber nicht so sehr die Hochhäuser, sondern die Natur. Die muss toll sein.

sueddeutsche.de: Sorgen Sie sich nicht, dass Sie von den Amerikanern erneut als Terrorist verdächtigt und misshandelt werden würden?

Kurnaz: Doch, zurzeit schon. Deshalb würde ich auch momentan nicht nach Amerika fliegen. In der Zukunft habe ich es vor. Das kann in einem Jahr sein, oder auch in zwanzig Jahren.

sueddeutsche.de: Haben Sie einen Groll auf Amerikaner?

Kurnaz: Nein. Es gibt ja auch viele, die mich unterstützt haben. Während ich in Guantanamo gefangen war, haben mir Tausende Amerikaner Briefe geschrieben. Die durfte ich aber nie lesen - bis zu meiner Freilassung.

sueddeutsche.de: Was stand in den Briefen?

Kurnaz: Alles Mögliche. Zum Beispiel: Es tut uns leid, was unsere Regierung Dir antut. Oder: Wir tun unser Bestes, Dich da rauszuholen. Verzeih' uns. Frohe Weihnachten! Bei meiner Freilassung habe ich die Briefe alle bekommen, aber nur als Farbkopien. Es war ganz viel Post von Kindern dabei. Und teilweise waren einzelne Wörter zensiert.

sueddeutsche.de: Glauben Sie, dass der Nachfolger von Präsident Bush das Lager schließen wird?

Kurnaz: Das ist nicht so einfach, auch wenn der neue Präsident das will. Es gibt viele Gefangene, über die man sagt, dass ihnen Folter in ihren Heimatländern droht. Es gibt zum Beispiel die Uiguren - sie sind unschuldig - die nicht nach China zurück können aus diesem Grund. Sie warten darauf, dass irgendein Land sie aufnimmt. Die USA weigern sich bislang, ihnen Asyl zu gewähren.

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