Interview mit Julian Nida-Rümelin:"Kurt Beck ist einiges gut gelungen"

Während der rot-grünen Jahre wurde manches in der SPD "wund gescheuert", sagt Ex-Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin. Mit sueddeutsche.de spricht der Politikwissenschaftler über die Krise seiner Partei, den richtigen Umgang mit der Linken und erklärt, was Angela Merkel mit Gerhard Schröder verbindet.

Hans-Jürgen Jakobs und Wolfgang Jaschensky

Julian Nida-Rümelin ist Professor für Politische Theorie und Philosophie an der Universität München. Von 2001 bis 2002 war er als Kulturstaatsminister Mitglied der Bundesregierung. Nida-Rümelin ist Mitglied der SPD-Grundwertekommission und hat am Hamburger Programm, dem neuen Grundsatzprogramm der SPD, mitgewirkt. Zuletzt erschien das Buch "Demokratie und Wahrheit" bei C. H. Beck.

Interview mit Julian Nida-Rümelin: "Die SPD wäre ganz schlecht beraten, ihre inhaltliche Positionierung an diesem Lackmustest - 'Wie hältst du es mit der Linkspartei?' - auszurichten." Julian Nida-Rümelin plädiert für einen pragmatischen Umgang mit der Linkspartei.

"Die SPD wäre ganz schlecht beraten, ihre inhaltliche Positionierung an diesem Lackmustest - 'Wie hältst du es mit der Linkspartei?' - auszurichten." Julian Nida-Rümelin plädiert für einen pragmatischen Umgang mit der Linkspartei.

(Foto: Foto: ddp)

sueddeutsche.de: Der SPD laufen die Wähler davon, das Institut Forsa hat die SPD bei nunmehr 20 Prozent gesehen. Erleben wir gerade die größte Krise in der Geschichte der Sozialdemokraten?

Julian Nida-Rümelin: Man muss sich hüten, aus Augenblickssituationen allzu tiefgreifende Schlüsse zu ziehen. Das Auf und Ab der Umfrageergebnisse ist wegen der schwächer gewordenen Parteibindungen und einer veränderten Medienkultur hektischer und zugleich irrelevanter geworden. Wichtiger sind programmatische Entwicklungen - welche Ziele haben Parteien, welche Wählergruppen können sie hinter sich vereinigen, wo gibt es Konflikte, die sie nicht lösen können und damit ihre Wählerschaft auseinandertreiben?

sueddeutsche.de: Langfristig kann man doch feststellen, dass sich zwei Parteien aus dem Schoß der Sozialdemokratie entwickelt haben. Einmal die Grünen in den achtziger Jahren und nun die Linken. Das ist doch auch eine große Schwächung der SPD als Partei.

Nida-Rümelin: Die Sozialdemokratie hat in ihrer Geschichte regelmäßig die Erfahrung gemacht, dass es links von ihr Abspaltungen gab. Bislang war die Erfahrung die, dass diese Abspaltungen nach links entweder nach einigen Jahren in der Bedeutungslosigkeit verschwinden oder sich im Totalitarismus verirren.

sueddeutsche.de: Bei der Entstehung der Grünen ist es anders gewesen.

Nida-Rümelin: Ja, es gab einen, in der linken Mitte der Partei angesiedelten, ökologisch-sozialen Flügel der SPD, der in der Ära Helmut Schmidt politisch weitgehend bedeutungslos blieb. Bei aller Verehrung für Helmut Schmidt: Das war ein großer Fehler. Daraufhin ist eine neue Kraft entstanden, die sich dauerhaft etablieren konnte, die sich aber auch auf konservative Lebensschützer, Ökobauern, ja sogar rechtsnationale Kräfte (AUD) und vor allem auf ein links-alternatives Milieu in den Groß- und Universitätsstädten stützen konnte.

sueddeutsche.de: Wird es auch den Linken gelingen, sich dauerhaft zu etablieren?

Nida-Rümelin: Ja, diese Verbindung aus Wendeverlierern und Idealisten im Osten einerseits und Gewerkschaftsmitglieder und mit der Sozialpolitik der SPD unzufriedenen WASGlern im Westen andererseits: Das ist vermutlich eine Kraft, die ebenso wenig verschwinden wird wie damals die Grünen. Nach meiner Einschätzung ist die Linkspartei weniger exzentrisch als die Grünen Anfang der achtziger Jahre. Sie ist mehr in der Mitte der Gesellschaft angesiedelt. Sie zieht viele Rentner und sozial Engagierte an. Das Parteiensystem in Deutschland wird auf Dauer fünfpolar bleiben.

sueddeutsche.de: Wie soll sich die SPD gegenüber der Linkspartei verhalten?

Nida-Rümelin: Pragmatisch. Die SPD wäre ganz schlecht beraten, ihre inhaltliche Positionierung an diesem Lackmustest - "Wie hältst du es mit der Linkspartei?" - auszurichten. Die Linkspartei ist in ihrer gegenwärtigen Programmatik auf Bundesebene nicht bündnisfähig. Vor allem eine vernünftige Außenpolitik ist mit der Linkspartei in der Regierung nicht möglich. Aber es spricht nichts dagegen, in den Bundesländern und in den Kommunen mit der Linkspartei zusammenzuarbeiten, wie mit der Union oder der FDP auch, wenn die Konstellation keine rot-grüne Mehrheit zulässt.

Lesen Sie auf Seite 2, was Julian Nida-Rümelin von Oskar Lafontaine hält.

"Kurt Beck ist einiges gut gelungen"

sueddeutsche.de: Sehen Sie da Chancen in der gegenwärtigen Situation oder sind die Berührungsängste angesichts von Personen wie Oskar Lafontaine nicht zu groß?

spd-chef Kurt Beck

Führt seit 2006 die SPD: Kurt Beck

(Foto: Foto: ddp)

Nida-Rümelin: Man sollte Politik nicht zu sehr personalisieren. Oskar Lafontaine ist ein begnadeter Demagoge und ein hochintelligenter Politiker, der aber seine Begabung oft problematisch einsetzt. Er bringt Argumente vor, von denen er selbst oft genug weiß, dass sie so nicht haltbar sind.

Die Zusammenarbeit zwischen SPD und Westerwelle ist programmatisch allerdings auch nicht ganz einfach. Dessen Antistaatsideologie steht oft diametral sozialdemokratischer Politik entgegen. Persönliche Antipathien und Vergangenes sollten die Politik jedenfalls möglichst wenig prägen. Im Kern muss es um Schnittmengen politischer Programmatik gehen, die der Praxis eine verlässliche Richtung geben.

sueddeutsche.de: Wie sieht es denn mit dem inhaltlichen Umgang aus? Die Linke besetzt ein Themenfeld, das früher ausschließlich mit der SPD in Zusammenhang gebracht worden ist: soziale Gerechtigkeit.

Nida-Rümelin: Das ist die wirklich interessante Frage - und da liegt die gegenwärtige Tragödie der SPD. Ich mache das einmal an einem anderen Beispiel deutlich. Ursula von der Leyen macht eine Familienpolitik, die eins zu eins das ist, was programmatisch von der Sozialdemokratie, vor allem von Renate Schmidt Jahre lang gefordert wurde.

Doch obwohl es die Familienpolitik der SPD ist, bringt sie keine Pluspunkte mehr für die Sozialdemokraten, denn das ist jetzt verbunden mit Ursula von der Leyen. Und so ähnlich ist das mit der Linkspartei. Die SPD hat sich ein neues Grundsatzprogramm gegeben, hat darin zum Beispiel die wichtige Zielsetzung, über Bildung eine Umsteuerung weg vom nachsorgenden hin zum vorsorgenden Sozialstaat zu erreichen. Das ist zukunftsfähig, dringt aber kaum durch. Die Linkspartei will dagegen Sozialpolitik von Wirtschaftspolitik abkoppeln und befördert damit einen folgenschweren politischen Irrtum, den die SPD gerade überwunden hat.

sueddeutsche.de: Warum verbinden die Wähler diese Themen nicht mit der Sozialdemokratie?

Nida-Rümelin: Zwei Dinge spielen da eine Rolle. Das eine ist: Es ist noch nicht gelungen, die programmatisch richtigen Festlegungen zu bündeln, auf einen Begriff zuzuspitzen und zum Markenzeichen der SPD zu machen. Hinzu kommt, dass sich die Medien verändert haben. Politische Informationen, Sachauseinandersetzungen stehen nicht im Mittelpunkt. Die Personalisierung macht es schwerer als noch vor 20 Jahren, mit programmatischen Positionen durchzudringen.

sueddeutsche.de: Für viele Wähler ist SPD-Chef Kurt Beck nicht überzeugend. Müsste Beck nicht zurücktreten?

Nida-Rümelin: Nein. In den Schröder-Jahren wurde manches in der SPD wund gescheuert. Die SPD hat unter diesem Führungsstil gelitten ...

sueddeutsche.de: ... dem Basta-Führungsstil ...

Nida-Rümelin: ... ja, gerade beim Agenda-Prozess war die kommunikative Seite der Politik nicht sehr ausgeprägt, und das tut einer sozialdemokratischen Partei mehr weh als hierarchischeren Parteien wie der Union oder auch der Linkspartei. Kurt Beck musste nun den Versuch unternehmen, die SPD wieder zusammenzuführen. Ihm sind auch Fehler unterlaufen, aber einiges ist ihm gut gelungen.

sueddeutsche.de: Was denn?

Nida-Rümelin: Zum Beispiel die sehr behutsame und inhaltlich begründete Korrektur von Hartz IV zugunsten von älteren Arbeitnehmern. Die überwiegende Mehrheit der Sozialdemokraten hat sich danach in der SPD wieder mehr zu Hause gefühlt. Ein Fehler war die harsche Festlegung gegen jede Kooperation mit der Linkspartei in den westlichen Bundesländern und dann der rasche Schwenk nach der Hessenwahl.

sueddeutsche.de: Fest steht, dass Beck sehr unglücklich agiert hat und jetzt beschädigen ihn die permanenten Spekulationen um die Kanzlerkandidatur.

Nida-Rümelin: Wenn ein Parteivorsitzender nicht die Möglichkeit hat zu bestimmen, ob er selbst antritt als Kanzlerkandidat, dann ist das sofort mit einem dramatischen Autoritätsverlust verbunden. Beck ist Parteivorsitzender, er hat von der Linie her die breite Unterstützung seiner Partei - deshalb sollte man ihm auch zugestehen, diese Entscheidung souverän zu treffen.

Lesen Sie auf Seite 3, warum Julian Nida-Rümelin die SPD trotz schlechter Umfragewerte für eine Volkspartei hält.

"Kurt Beck ist einiges gut gelungen"

sueddeutsche.de: Seine Umfragewerte gehören aber zu den wenigen, die noch schlechter sind als die seiner Partei.

Nida-Rümelin: Auch Schröder hatte vor seinem dritten Bundestagswahlkampf gruselige Umfragewerte. Nach der Wahl war der Vorsprung der Union dann nur ein Prozentpunkt. So einfach ist es in der Politik nicht. Ich glaube, es hängt sehr davon ab, ob das programmatische Profil der Sozialdemokratie überzeugt, dann entwickeln sich auch die personellen Akzeptanzen anders. Helmut Kohl ist da auch ein Beispiel: Er hatte schlechte persönliche Werte, aber die CDU stand gut da.

sueddeutsche.de: Im Fall der SPD stehen aber der Vorsitzende und die Partei schlecht da.

Nida-Rümelin: Im Augenblick haben Sie recht, ja.

sueddeutsche.de: Im Hamburger Programm definiert sich die SPD als linke Volkspartei. Machen sich die Sozialdemokraten nicht etwas vor? Kann die SPD mit 20 Prozent ohne die Ökologen, die bei den Grünen sind, ohne die Gerechtigkeitsbewussten, die jetzt zum Teil bei der Linken sind, noch Volkspartei sein.

Nida-Rümelin: Volkspartei ist - das sage ich Ihnen jetzt als politischer Theoretiker - nicht eine Frage der Größe ...

sueddeutsche.de: ... aber es drückt sich darin doch aus. Eine Volkspartei, der das Volk abhandenkommt, ist irgendwann doch keine Volkspartei mehr.

Nida-Rümelin: Die Sozialdemokratie ist geradezu paradigmatisch eine Volkspartei, weil sie gemeinwohlorientiert ist und sehr unterschiedliche sozioökonomische und kulturelle Milieus integriert. Sie hat Anhänger im technokratisch-liberalen Milieu, unter Intellektuellen und Bildungsbürgern, gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern bis hin zu eher links-alternativ Geprägten. Das heißt, die SPD hat eine gewaltige Spannbreite zu integrieren, selbst bei 30 oder gar nur 20 Prozent. Es ist gegenwärtig nicht erkennbar, dass sich die Anhängerschaft der SPD auf ein sozioökonomisches oder kulturelles Milieu reduziert.

sueddeutsche.de: Wie kann dann die Volkspartei SPD wieder mehr Volk für sich begeistern?

Nida-Rümelin: Ich glaube, dass das neue Grundsatzprogramm die richtigen Konzepte anbietet. Jetzt kommt es für die SPD darauf an, das in konkrete, auch mit Begriffen verbundene Projekte der Politik umzusetzen.

sueddeutsche.de: Damit kommt die SPD aus dem Umfragetief raus?

Nida-Rümelin: Das glaube ich, ja. Der Armutsbericht belegt, dass der Anteil derjenigen steigt, die von ihrem Arbeitseinkommen nicht mehr leben können. Der Anteil derjenigen, die ohne Schulabschluss ins Berufsleben entlassen werden, nimmt zu. Das sind zwei Beispiele für die wirklichen Herausforderungen Deutschlands. Da hilft in meinen Augen nur eine große staatliche Anstrengung.

sueddeutsche.de: Warum steht die Union derzeit so viel besser da als die SPD. Doch nicht nur, weil sie Themen der Sozialdemokraten aufgegriffen hat.

Nida-Rümelin: Nein, natürlich auch, weil wir in einer Kanzlerdemokratie leben. Die Abgeordnetenzahlen sind zwar gleichgewichtig, aber Kanzlerin Merkel bildet das Machtzentrum der Republik und steht dann für die Erfolge. Gelegentlich auch für die Misserfolge, aber Merkel ist es bislang gut gelungen, sich diese selten zurechnen zu lassen.

sueddeutsche.de: Fehlt in der SPD eine Autorität, ein elder statesman, der die Diskussion bündeln kann? Als es darum ging, ob Frau Schwan antreten soll, hat die SPD Eppler und Vogel hinzugebeten.

Nida-Rümelin: Ja - und ich bin ganz grundsätzlich der Meinung, wir gehen mit dem Altersspektrum in Deutschland nicht sehr gut um. Die Jungen fehlen - und die Alten auch. Viele Abgeordnete scheiden mit 65 aus, als seien sie ganz normale Beamte. Da geht sehr viel Lebenserfahrung verloren. Und die jungen, die eine eigene Lebenswelt mitbringen könnten, sind noch nicht präsent. Somit ist der Erfahrungshorizont der einflussreichen Politiker sehr schmal. Auch Schröder hat sich in schwierigen Situationen Rat bei Vogel und Eppler geholt. Die beiden sind auch deshalb willkommene Ratgeber, weil sie aus unterschiedlichen Ecken kommen: Vogel, der frühere Parteirechte, Eppler der frühere Parteilinke. Heute konvergieren sie in vielen Fragen. Beide meinen, man müsse Politik vor dem Hintergrund eines langfristigen und in sich schlüssigen Wertehorizontes entwickeln. Und das obwohl viele moderne Politikberater sagen: Vergesst das, wir sind in einer "Issue-Phase", es geht lediglich darum, geeignete aktuelle Themen herauszugreifen und medial zu inszenieren.

Lesen Sie auf Seite 4, warum Julian Nida-Rümelin diese Entwicklung für "hochgefährlich" hält.

"Kurt Beck ist einiges gut gelungen"

sueddeutsche.de: Diesen Stil halten Sie für gefährlich?

Nida-Rümelin: Den halte ich für hochgefährlich. Die Politik wird unberechenbar, das verunsichert auch die Bürger. Es ist mal das eine wahnsinnig wichtig für einige Monate, dann verändern sich die Umfrageergebnisse - und das Thema ist wieder verschwunden. Hinterher fragt man sich: War da einmal nicht eine Debatte und was ist dann eigentlich geschehen?

sueddeutsche.de: Das stimmt. War das nicht der Schröder-Stil?

Nida-Rümelin: Bei Schröder ist dann auch etwas passiert, das ist schon ein Unterschied und sowohl beim Zweiten Irakkrieg, als auch bei der Agenda hat er nach der getroffenen Entscheidung konsequent Kurs gehalten. Aber in der Tat war er, wie auch Kohl, skeptisch gegenüber programmatischen Festlegungen - mit allen Folgen, die das hat. Das hat beide flexibel gemacht. Kohl bei der deutschen Einheit, Schröder bei der Agenda. Das macht die Politiker handlungsfähig, wendig, aber es gefährdet langfristig die Stringenz politischer Praxis.

sueddeutsche.de: Sehen Sie diese Stringenz bei Angela Merkel?

Nida-Rümelin: Nein, es ist geradezu phänomenal, wie Merkel das auf die Spitze treibt. Merkel war einmal eine ausgewiesene Umweltpolitikerin. Davon ist jetzt gar nichts mehr erkennbar, wenn es um die Interessen der Autoindustrie geht. Der Leipziger Parteitag? Völlig vergessen.

sueddeutsche.de: Also: Der kluge Politiker legt sich nicht fest?

Nida-Rümelin: Ja, und das ist gefährlich. Max Weber nennt in seinem berühmten Vortrag "Politik als Beruf" drei Grundtugenden für Politiker: Leidenschaft, Beharrlichkeit und Augenmaß. Leidenschaft versteht Weber als etwas, das an der Sache orientiert ist. Ein guter Politiker lässt sich nicht zu einer situativen Anpassung an Erwartungen verführen.

sueddeutsche.de: Wer war Ihrer Meinung nach der letzte Politiker, der sich an Webers Ideal messen lassen konnte?

Nida-Rümelin: Helmut Schmidt. Auch Willy Brandt, besonders in der schwierigen Auseinandersetzung um die neue Ostpolitik. Aber bei Helmut Schmidt war das ganz explizit. Auch in dieser Hinsicht ist er eine beachtliche Figur. Der Politikbetrieb braucht mehr Persönlichkeiten, die bei ihrer Meinung bleiben, auch wenn sie nicht beliebt ist.

sueddeutsche.de: Das System hat sich in den vergangenen Jahren enorm verändert. Es gibt mehr Parteien, die Koalitionssuche ist schwerer, die Wahlbeteiligung nimmt ab. Kann das zu italienischen Verhältnissen führen?

Nida-Rümelin: Ich bin nicht der Meinung, dass uns das unmittelbar bevorsteht, aber die italienische Situation ist besorgniserregend, weil man dort besichtigen kann, was es heißt, wenn die politische Auseinandersetzung weitgehend unter mediale Kontrolle gerät. Wenn drei von sechs wichtigen Fernsehkanälen in der Hand eines Kandidaten sind, dann sagt das einiges. Der so gut gemeinte Reformprozess nach den Mani pulite (saubere Hände, sinngemäß weiße Weste; Anm. d. Red.) hat außerdem zu einer völligen Deligitimierung der staatlichen Institutionen geführt. Das Ergebnis ist ein Stil der politischen Auseinandersetzung, der jeder Beschreibung spottet. Das ist eine schlimme Entwicklung.

sueddeutsche.de: Wie konnte es so weit kommen - und welche Lehre kann man daraus ziehen?

Nida-Rümelin: Speziell die Sozialdemokratie kann in Italien lernen. Walter Veltroni hat eine Partito Democratico nach dem Stil der Demokratischen Partei der USA gebildet. Das Projekt ist grandios gescheitert. Die radikale Linke wurde zwar pulverisiert, aber in der Mitte wurde überhaupt nichts hinzugewonnen.

sueddeutsche.de: Was kann man daraus lernen?

Nida-Rümelin: Es macht für eine Partei keinen Sinn, wie in einem Bauchladen alles dabeizuhaben und Gefälligkeitsprogrammpunkte zusammenzustellen. Das entscheidende ist eine klare, inhaltliche Linie. Die fehlte der Partito Democratico. Wie es Tugenden für Politiker gibt, gibt es sie auch für Parteien: Wenn sie von etwas überzeugt sind, müssen sie es vertreten, auch wenn es vorübergehend keine Zustimmung bringt. Wenn sich das Programm mittelfristig als richtig herausstellt, dann ist das die große Chance. Das ist die italienische Lehre, die die Sozialdemokratie in Deutschland ziehen sollte.

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