Interview mit Genscher:"Obama könnte Vertrauen zurückgewinnen"

Der ehemalige Außenminister Genscher spricht über das Scheitern der USA, die neuen Global Player - und seine Hoffnungen in Obama.

Peter Lindner und Hans-Jürgen Jakobs

Hans-Dietrich Genscher war von 1974 bis 1992 fast durchgehend Bundesaußenminister und Vizekanzler. Er gilt als eine der herausragenden Politiker-Persönlichkeiten in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Genscher ist 81 Jahre alt und lebt in der Nähe von Bonn.

genscher; ddp

"Bush hinterlässt eine schwere Erbschaft": Hans-Dietrich Genscher

(Foto: Foto: Getty Images)

sueddeutsche.de: Herr Genscher, die meisten Außenpolitiker sind sich einig: Die Ära der Vormachtstellung der USA in der Welt ist vorbei. Sehen Sie das genauso?

Hans-Dietrich Genscher: Wir erleben gerade tektonische Umbrüche in der Welt. Die Rolle der USA wandelt sich. Die Bush-Administration ist von der Fehleinschätzung ausgegangen, dass es mit dem Ende des Ost-West-Gegensatzes nur noch eine einzige Macht in der Welt gibt: die USA. Eine Macht, auf die alles fokussiert ist. Eine Macht, die alles dominiert ...

sueddeutsche.de: ... die aber bei aktuellen Krisen geradezu ohnmächtig wirkt.

Genscher: In der Tat, es war eine gefährliche Illusion. Fest steht: Die Probleme in der Welt lassen sich nicht im Alleingang lösen. Bei führenden amerikanischen Politikern, die auch jetzt noch in der Verantwortung sind, herrschte in den vergangenen Jahren oftmals eine andere Auffassung vor: Die USA seien selbst so stark, dass sie allein die Regeln bestimmen und nicht im alten Sinne kooperieren müssen. Das erklärt auch, warum sie Schritt für Schritt versucht haben, aus schon bestehenden Vereinbarungen auszusteigen - wie beispielsweise jenen zur Beschränkung der nuklearen Rüstung oder zum Klimaschutz.

sueddeutsche.de: Ein klassischer Fall von Selbstüberschätzung?

Genscher: Die Grundidee war falsch: Dass durch den Wegfall der Bipolarität mit Russland eine Unipolarität entsteht. Ich habe schon frühzeitig die Meinung vertreten, dass bereits das Ende des Kalten Krieges der Anfang einer neuen Weltordnung war - und zwar einer multipolaren.

Es entstanden mehrere Kraftzentren: einmal mit dem neuen Russland, mit der Überwindung der Schwächeperiode unter Jelzin, aber auch mit Indien, der größten Demokratie der Welt; natürlich auch mit China, aber auch mit Staaten wie Brasilien und mit Staatengemeinschaften - wie der EU - mit zunehmendem Gewicht. Das gilt übrigens auch für die Asean-Staaten, für den Golf-Kooperationsrat und für regionale Zusammenschlüsse in Lateinamerika.

sueddeutsche.de: Welche Kriterien sind künftig, jenseits der Soldaten- und Waffenstärke, ausschlaggebend für die Bedeutung eines Staates in der Welt?

Genscher: Ich sage bewusst "Kraftzentrum" und nicht "Machtzentrum" - denn dieser Begriff ist nicht militärisch zu verstehen. Eine sehr viel größere Rolle werden die wirtschaftlichen sowie intellektuellen und technologischen Fähigkeiten spielen. Wenn Sie sich zum Beispiel China ansehen: Eine Erklärung für das wachsende Gewicht des Landes liegt auch darin, dass es gigantische Beträge in die innere Entwicklung investiert und seinen Etat nicht für überflüssige Rüstungsausgaben verschleudert. Entscheidend ist nicht eine militärische Dominanz in der Region, sondern vor allem die wirtschaftliche Attraktivität.

Die Bush-Administration übernahm das Land mit einem ausgeglichenen Haushalt, ja mit Haushaltsüberschüssen. Inzwischen hat sie, nicht zuletzt durch ihre Kriegsführung, eine gigantische Staatsverschuldung herbeigeführt, die Auswirkungen auf die ganze Welt hat.

sueddeutsche.de: Sie sprachen China an: Sehen Sie das Land auf internationaler Ebene politisch angemessen repräsentiert?

Genscher: Nein, hier muss sich einiges ändern. Die G 8 geben zum Beispiel nicht mehr die Welt von heute wider - und damit auch nicht der G-8-Gipfel. Dort fehlen eben China, Indien, Brasilien, die Golfstaaten und Repräsentanten Afrikas. Es wird höchste Zeit, dass hier eine Zusammenarbeit der wirklichen Global Player von heute und von morgen stattfindet.

sueddeutsche.de: Welche Rolle kommt dem Gremium künftig zu?

Genscher: Das ist die Bühne, auf der man kooperativ Regelungen vereinbaren kann. Wir erleben beispielsweise derzeit eine Debatte über die amerikanische Finanzkrise. Bundeskanzlerin Angela Merkel beklagt zu Recht, dass sich Washington nicht bereit gefunden hat, globale Regelungen über die Transparenz auf den globalen Finanzmärkten zu vereinbaren. Das hat dieselben Wirkungen, wie das Hinausschleichen aus schon getroffenen Vereinbarungen in anderen Bereichen.

sueddeutsche.de: Was erwarten Sie von der amerikanischen Führung?

Genscher: Es wird wichtig sein, dass man die anderen Teile der Welt in seine Willensbildung miteinbezieht, dass man kooperiert.

sueddeutsche.de: Relativiert sich die alte Stärke der USA nicht automatisch, weil durch die Finanzkrise jetzt riesige Lasten auf die Vereinigten Staaten zukommen? Das Land ist ohnehin seit Jahren verschuldet und hat gigantische Defizite in der Zahlungsbilanz.

Genscher: Aber auch hier ist Bush gescheitert. Er hinterlässt auch hier eine schwere Erbschaft. Wir leben in einer Welt zunehmender globaler Interdependenz. Das heißt, es gibt keine entfernten Gebiete mehr. Je größer ein Akteur, desto nachhaltiger die Auswirkungen. Daraus ergeben sich auch Verpflichtungen für die großen Global Player. In dieser Zeit bedeuten Größe und wirtschaftliches Gewicht nicht mehr Rechte, sondern mehr Verantwortung.

Lesen Sie auf Seite zwei, was Genscher von Barack Obama hält - und wie er die Zukunft der transatlantischen Partnerschaft sieht.

"Obama könnte Vertrauen zurückgewinnen"

sueddeutsche.de: Glauben Sie, dass mit einem neuen Präsidenten in den USA auch ein anderer Politikstil Einzug hält?

Genscher: Man kann nur hoffen, dass der neue Präsident die Einsicht hat, dass kein Land der Welt so stark ist und sein kann, dass es den Rest der Welt dominiert. Das ist übrigens auch eines der Erfolgsgeheimnisse der europäischen Einigung: Der Erfolg Europas wurde möglich, weil es drei große und drei kleine Gründungsstaaten gab. Sie mussten lernen, miteinander umzugehen - dazu mussten die größeren ihren jeweiligen Anspruch, der Größte zu sein, an der Garderobe abgeben. Das ist aus meiner Sicht die Botschaft Europas an die Welt: Wir haben gezeigt wie's geht - dass nicht das Recht des Stärkeren gilt, sondern die Stärke des Rechts.

sueddeutsche.de: Haben Sie in beide US-Präsidentschaftskandidaten die gleiche Hoffnung, dass sich die Vereinigten Staaten vom alten, unipolaren Denken abwenden?

Genscher: Beide Kandidaten haben sich bisher sehr vorsichtig geäußert. Barack Obama ist nach meinem Eindruck für eine gleichberechtigte Partnerschaft offener als John McCain. Mir gefällt gut, was Obama über die transatlantische Zusammenarbeit gesagt hat: dass sie auf Augenhöhe ablaufen sollte. Er könnte als US-Präsident viel bewegen und verlorenes Vertrauen zurückgewinnen.

Bedenken Sie, was John F. Kennedy vor Jahrzehnten gesagt hat: Die transatlantische Partnerschaft hat zwei Pfeiler - Europäer und Amerikaner. Bei der jetzigen amerikanischen Führung hat man dagegen das Gefühl, es gibt einen Pfeiler und viele kleine Pfeilerchen, beispielsweise "altes Europa" und "neues Europa". Das ist ein erschreckender Gegensatz zu dem Denken der Administration Bush-Vater und Baker.

sueddeutsche.de: Obama wird oft seine Unerfahrenheit vorgeworfen, gerade in der Außenpolitik.

Genscher: Hier wird von der irrtümlichen Meinung ausgegangen, dass der andere Kandidat schon mal Präsident gewesen sei. Erfahrung als Präsident hat aber keiner von beiden. Als ich Außenminister wurde, hatte ich auch keine Erfahrung als Außenminister. Für alles gibt es ein erstes Mal.

sueddeutsche.de: Sie plädieren immer wieder für eine Erneuerung der transatlantischen Partnerschaft. Was heißt das konkret für die Zusammenarbeit in der Nato und den Kampf gegen den Terrorismus?

Genscher: Hier wird ein grundlegendes Problem der transatlantischen Partnerschaft deutlich: Der Nato fehlt, auch durch die Schwäche der Nato-Zentrale, immer noch ein stimmiges Konzept für die neuen Herausforderungen.

sueddeutsche.de: Trifft das auch auf den Einsatz in Afghanistan zu?

Genscher: Eindeutig ja. Es ist ein dringliches Gebot, dass man sich endlich über die Konzeption für den Einsatz in Afghanistan verständigt. Hier geht jede Nation ihre eigenen Wege. Der der Bundesrepublik erscheint mir dabei noch der sinnvollste. Wir erleben jetzt auch noch, dass vor allem durch die amerikanischen Einsätze in Pakistan eine erhebliche Destabilisierung der dortigen staatlichen Strukturen stattfindet.

Die zunehmende Zahl von zivilen Opfern treibt immer mehr Menschen in die Arme der erklärten Gegner der westlichen Demokratien. Das kann den Verbündeten nicht gleichgültig sein. Wir sind mitbetroffen: Immerhin ist Pakistan ein Nuklearstaat. Die Vorstellung, dass seine Atomwaffen in die falschen Hände fallen, ist grauenhaft.

sueddeutsche.de: Wehren sich die Verbündeten zu zaghaft gegen die amerikanischen Alleingänge?

Genscher: Diese Alleingänge schwächen die Nato wie nichts zuvor. Viele Entscheidungen werden außerhalb des Bündnisses und ohne Verständigung mit den Verbündeten getroffen - wie mit der "Koalition der Willigen". Das ist gefährlich.

sueddeutsche.de: Wie soll sich die Bundesregierung in Afghanistan weiter verhalten? Unabhängig vom Wahlausgang in den USA ist davon auszugehen, dass der Druck auf Deutschland wächst, sich stärker in Afghanistan zu engagieren - auch im Süden des Landes.

Genscher: Die Bundesregierung tut gut daran, am bisherigen Kurs festzuhalten. In welcher Region sich Deutschland wie stark engagiert, wird in Berlin entschieden und nirgends sonst. Viel wichtiger ist es, ein gemeinsames Konzept zu entwickeln - und zwar miteinander. Was soll man davon halten, wenn der Nato-Generalsekretär in Sachen Georgien die EU kritisiert, obwohl die meisten Mitgliedsstaaten der Nato auch Mitglieder der EU sind?

Lesen Sie auf Seite drei, was Genscher am Umgang des Westens mit Russland kritisiert - und wie ein Weg aus der Krise aussehen könnte.

"Obama könnte Vertrauen zurückgewinnen"

sueddeutsche.de: Wie sollte aus Ihrer Sicht das neue Konzept der Nato aussehen?

Genscher: Man muss zuallererst fragen: Was ist die Aufgabe der Nato heute? Ist sie der Weltpolizist des 21. Jahrhunderts? Ich will nicht hoffen, dass sie sich so versteht. Wo liegen die Grenzen der Nato? Auch darüber gibt es keine Verständigung. Alleingänge wie die - nach meiner Überzeugung weder erforderliche noch vertretbare - Stationierung eines Raketenabwehrsystems an der Nato-Ostgrenze schaffen mehr Probleme als Vorteile.

sueddeutsche.de: Eine unnötige Provokation unter amerikanischem Einfluss?

Genscher: Zunächst fühle ich mich als Deutscher provoziert. Wir sind in Europa der stärkste Partner der Nato, werden aber in die Prüfung solcher Vorhaben nicht miteinbezogen. Wir müssen jedoch die Folgen, die daraus entstehen können, mittragen - weil wir hier leben. Die Ostgrenze der Nato verläuft eben nicht mitten durch Amerika, aber in unserer unmittelbaren Nachbarschaft.

sueddeutsche.de: Was ist schiefgelaufen im Verhältnis des Westens zu Russland?

Genscher: Wir haben nach dem Kalten Krieg versucht, ein kooperatives Verhältnis mit Russland aufzubauen. Das taten vor allem die Administration Bush senior/Baker und die damalige Bundesregierung. Wir haben ein elementares Interesse an einem guten Verhältnis zu Russland. Wir können einander viel geben, wir leben auf demselben Kontinent.

Aber was soll man davon halten, wenn auf amerikanischen Druck hin mitten im Kaukasus-Konflikt der Nato-Russland-Rat nicht zusammentritt? Und das, obwohl in den Bestimmungen für den Nato-Russland-Rat steht, dass er in solchen Fällen zu Sondersitzungen zusammentreten soll! Wir haben auch in den Phasen des kältesten Krieges den Gesprächsfaden nie durchgeschnitten, sondern alle Foren der Diskussionen genutzt.

Man verweigert den Nato-Russland-Rat, aber man hält eine Nato-Rat-Sitzung in der Hauptstadt des Nicht-Nato-Landes Georgien ab. Das ist Juckpulver streuen in die Jacke eines anderen. Wir können heilfroh sein, dass die Bundeskanzlerin mit ihrer jüngsten Begegnung mit dem russischen Präsidenten Diskussion, Kooperation mit Russland, ohne Verleugnung eigener Positionen, verantwortungsvoll fortgesetzt hat.

sueddeutsche.de: Was will die Nato mit diesem Kurs erreichen?

Genscher: Das frage ich mich auch.

sueddeutsche.de: Vertrauensbildung und Kooperation waren Ihnen im Verhältnis zu Russland besonders wichtig, um in Europa Stabilität zu schaffen. Wie die aktuelle Krise zeigt, ist dies jetzt nicht gelungen. Warum nicht?

Genscher: In einer solchen Situation ist es wichtig und wird es wichtig bleiben, dass Europa seine Stimme erhebt. Und das ist geschehen. Sie dürfen nicht vergessen: Es waren die Europäer, die erreicht haben, dass in Georgien nicht mehr geschossen wird. Das war für die betroffenen Menschen besonders wichtig. Vor allem dank der Aktionen von Nicolas Sarkozy mit Unterstützung der Bundesregierung.

sueddeutsche.de: Ihr Parteifreund und Nachfolger als Außenminister, Klaus Kinkel, erinnerte kürzlich daran, "dass sich Russland seit Auflösung der Sowjetunion und dem Verlust des Supermachtstatus ständig gedemütigt fühlte". Teilen Sie diese Einschätzung?

Genscher: Ja. Dass Russland nach dem Ende des Warschauer Pakts, nach dem Zerfall der Sowjetunion Veränderungen in seiner unmittelbaren Umgebung sehr sensibel aufnimmt, ist verständlich. Aber Russland ist ein Global Player und wird es zunehmend nach Überwindung der Jelzin'schen Schwächeperiode immer mehr sein.

sueddeutsche.de: Halten Sie es vor diesem Hintergrund für klug, Georgien und die Ukraine im Dezember in den Aktionsplan zur Vorbereitung auf eine Nato-Mitgliedschaft aufzunehmen?

Genscher: Ich glaube nicht, dass die Ereignisse der letzten Wochen diese Entscheidung wahrscheinlicher gemacht haben.

sueddeutsche.de: Sie würden auch nicht dazu raten?

Genscher: Nein. Hier sollte nichts übereilt werden. Zunächst ist es wichtig, dass wir wieder stabile Verhältnisse in Europa schaffen.

sueddeutsche.de: Sarkozy hat kürzlich wieder einen gemeinsamen Wirtschaftsraum zwischen der EU und Russland gefordert. Was halten Sie davon?

Genscher: Dazu gibt es ja eine Beschlusslage der EU. Sie sieht vor, dass wir eine Freihandelszone mit Russland schaffen. Aus meiner Sicht weisen solche Ideen in die Zukunft, weil sie Grenzen überwinden.

Es gibt ein chinesisches Sprichwort, das sagt: Wenn der Wind der Veränderung weht - und der weht ziemlich stark zurzeit -, dann bauen die einen Mauern und die anderen setzen die Segel. Der Erfolg Europas beruht darauf, richtig und rechtzeitig die Segel gesetzt zu haben.

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