Interview mit Franz Müntefering:"Europa ist nicht unsozial"

Der Vizekanzler über die Gefahren einer weltweiten Finanzindustrie, den Europafrust der Deutschen und die Airbus-Krise.

Christoph Schwennicke und Claus Hulverscheidt

Franz Müntefering, 67, ist Bundesarbeitsminister und Vizekanzler der Großen Koalition. Der Sozialdemokrat will den Doppelvorsitz Deutschlands in der EU und der G8 nutzen, um sozialpolitische Themen international stärker zu verankern.

Interview mit Franz Müntefering: Franz Müntefering verwahrt sich gegen die Devise "Geld regiert die Welt"

Franz Müntefering verwahrt sich gegen die Devise "Geld regiert die Welt"

(Foto: Foto: dpa)

SZ: Herr Müntefering, beim europäischen Flugzeughersteller Airbus sollen Tausende Jobs wegfallen. Ist das ein Beispiel dafür, wie Europa gerade nicht funktionieren sollte?

Franz Müntefering: Wenn man die gute Auftragslage bei Airbus betrachtet, dann muss man meiner Meinung nach auf Wachstum und nicht auf Schrumpfen setzen. Zudem muss da, wo Konsolidierung trotzdem nötig ist, die Balance zwischen den beteiligten Ländern gewahrt bleiben. Wir in Deutschland achten darauf, dass uns insbesondere der innovative Teil nicht verloren geht. Insofern schadet es nicht, etwas länger über das geplante Sanierungsprogramm zu beraten. Die Lösung muss allerdings bald vorliegen.

SZ: An Airbus sind der deutsche und der französische Staat mittelbar oder direkt beteiligt. Leidet das Unternehmen unter zu viel politischer Einflussnahme?

Müntefering: Nein. Airbus hat zum Beispiel Lieferzeiten für Flugzeuge genannt, die dann verpasst wurden - und zwar um Längen. Aber diese Liefertermine haben wir ja nicht im Bundestag beschlossen. Das hat das Management zu verantworten - und ist entsprechend jetzt auch in der Pflicht für ein tragfähiges Sanierungskonzept. Und zwar eins, das nicht einseitig zu Lasten der Arbeitsplätze in Deutschlands gehen darf.

SZ: Besteht nicht die Gefahr, dass jetzt aus politischen Gründen Strukturen erhalten werden, die Airbus den Wettbewerb gegen Boeing in den kommenden Jahren weiter erschweren werden?

Müntefering: Jede Firma muss sich doch immer wieder effizient aufstellen. Das ist normal. Es gibt aber auch nationale Interessen der beteiligten Länder, also auch Deutschlands.

SZ: Die Regierung käme nie auf die Idee, bei einem Chemiekonzern mitzumischen. Warum bei einem Flugzeugbauer?

Müntefering: Deutschland muss bei aller zunehmenden Bedeutung des Dienstleistungssektors den Ehrgeiz haben, ein hochleistungsfähiges Industrieland zu bleiben. Dazu bedarf es einer entsprechenden offensiven Industriepolitik.

SZ: Sie haben vor zwei Jahren mit dem Bild der Heuschrecke vor aggressiven Finanzinvestoren gewarnt, die Unternehmen zerlegen und dann weiterziehen. Warum gefallen Sie sich so sehr in der Rolle des Heuschrecken-Schrecks?

Müntefering: Bin ich das? Ernsthaft: Es wird immer weniger bestritten - auch von Managern -, dass es mittlerweile eine Finanzindustrie weltweit gibt, die nur ein Ziel hat: Mit viel Geld schnell ganz viel Geld verdienen. Das ist nicht an sich schlecht, aber es birgt immense Risiken. Wenn beispielsweise Fonds riesige Summen an Geld und damit an Macht ansammeln und sie ohne soziale Regeln und Transparenz einsetzen können, dann kann das für Unternehmen, Banken, Arbeitnehmer und ganze Länder zum Problem werden.

Sorgen um die Demokratie sind schon angebracht, wenn einen immer mehr Menschen fragen, ob wir als Politiker solche Dinge eigentlich noch im Griff haben. "Geld regiert die Welt" kann nicht das Motto sein. Der Primat der Politik muss gelten. Wenn Politik davon ablässt, so etwas regeln zu wollen, dann kann Politik einpacken, dann nimmt die Demokratie Schaden.

SZ: Die G7-Finanzminister haben kürzlich erstmals über das Thema Hedge-Fonds gesprochen. Von Regulierung und staatlicher Aufsicht war dabei aber nicht die Rede, sondern allenfalls von ein bisschen mehr Transparenz. Reicht das?

Müntefering: Es ist Peer Steinbrücks Verdienst, dass das Thema jetzt diskutiert wird. Ich finde das gut, denn Transparenz ist gut. Aber das kann nur der Anfang sein. Für mich geht es um die Frage: Ist der Mensch für die Wirtschaft da oder die Wirtschaft für den Menschen? Wenn diese besagte Form von Finanzindustrie dazu führt, dass zwar viel Geld verdient wird, die Menschen davon aber nichts haben, dann läuft was falsch. Dann muss die Politik soziale Regeln suchen.

SZ: Es hat aber auch schon Fälle gegeben, in denen Hedge-Fonds Firmen gerettet haben, die die gute alte Hausbank längst verloren gegeben hatte.

Müntefering: Klar. Wenn jemand Arbeitsplätze rettet und Unternehmen bei der Umstrukturierung hilft, ist mir egal, wie er heißt. Hedge-Fonds sind nicht pauschal schlecht. Das sage ich auch nicht.

SZ: Europa ist sich in Sachen Hedge-Fonds uneinig - wie in so vielen anderen Fragen auch. Das ist ein Grund dafür, dass die Menschen zwar Europa mögen, aber nicht die Europäische Union.

Müntefering: Der Beschreibung stimme ich ausdrücklich zu. Wir müssen deshalb erstens den Verfassungsprozess wieder in Gang setzen, der soziale Grundsätze und Maximen festschreibt. Zweitens müssen ökonomische, ökologische und soziale Interessen abgestimmt angestrebt und gleich gewichtet werden. Ziel müssen mehr gute Arbeitsplätze, ordentliche Arbeitsbedingungen, faire Löhne und gute Bildungschancen für alle sein. Europa ist nicht unsozial. Im Gegenteil: Europa kann sogar Modell sein.

SZ: Dass die EU-Verfassung bei den Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden gescheitert ist, lag aber doch unter anderem daran, dass die Menschen damit geringere und nicht höhere Sozialstandards verbanden.

Müntefering: Ja, das ist ja das Absurde. In vielen Köpfen ist drin: Europa ist Ökonomie, ist Wettbewerb. Diese Wahrnehmung müssen wir verändern, indem wir das Soziale stärker auf die europäische Agenda setzen und als europäisches Thema erkennbar machen. Allerdings ist auch klar: So wie das Soziale wichtig - und im übrigen eine große wirtschaftliche Kraft - ist, so ist ein hohes Maß an sozialer Sicherheit nur zu erreichen, wenn Europa ökonomisch erfolgreich ist. Das sind zwei Seiten einer Medaille. Ich stehe für beide.

SZ: Muss der Rat der Sozialminister zu einem Beschlussgremium analog zum Finanzministerrat aufgewertet werden?

Müntefering: Das würde nichts bringen, weil sozialpolitische Beschlüsse eben von den Nationalstaaten getroffen werden - und auch weiter getroffen werden müssen. Ich will ja auch gar nicht den gleichen Kündigungsschutz oder die gleiche Altersvorsorge in Deutschland wie in Slowenien und Irland. Wozu auch?

Aber das Soziale muss in Europa stärker Thema werden. Zum Beispiel indem wir ambitionierter als in der Vergangenheit gemeinsame Ziele definieren, die trotz unterschiedlicher Wohlstandsniveaus für alle gelten, etwa das Ziel gute Arbeit oder die Gleichstellung von Mann und Frau am Arbeitsplatz.

SZ: Der EU-Beitritt der osteuropäischen Staaten hat auch bei der Unternehmensbesteuerung den schon bestehenden Wettbewerb unter den Mitgliedsländern nochmals erhöht. Die Bundesregierung will deshalb die Steuern senken - Teile der SPD blockieren jedoch. Haben da einige immer noch nicht begriffen, was Europa und Globalisierung bedeuten?

Müntefering: Im Jahr 2004 sind Gewinne in Höhe von 50 Milliarden Euro aus Deutschland bei Tochterfirmen im EU-Ausland versteuert worden, weil es dort niedrigere Steuersätze gab. Wenn das Geld hier geblieben wäre, hätten wir zig Milliarden Euro mehr in den öffentlichen Kassen gehabt. Deshalb ist die Unternehmenssteuerreform unverzichtbar.

Wir müssen das machen - im eigenen ökonomischen Interesse. Wenn das bedeutet, dass es eine kurzzeitige Delle bei den Staatseinnahmen gibt, dann muss man das hinnehmen. Auf der Strecke wird sich die Reform für das Land auszahlen. Was wir allerdings verhindern müssen, ist, dass der Steuersenkungswettlauf in Europa ungebremst weitergeht. Gut wäre zudem eine gemeinsame steuerliche Bemessungsgrundlage.

SZ: Noch einmal zurück zur EU: Liegt das Akzeptanzproblem nicht auch an den völlig intransparenten Entscheidungsstrukturen? Und ist es noch zeitgemäß, dass das Initiativrecht für Richtlinien ausschließlich bei den Kommissaren liegt, die kein Bürger kennt und die nicht demokratisch gewählt wurden?

Müntefering: Das Initiativrecht für Richtlinien bleibt auch mit der Verfassung bei der Kommission. Das ist auch in Ordnung. Aber Sie haben natürlich Recht: Man muss schon die Frage stellen, wer darüber entscheidet, was in Europa auf die Tagesordnung kommt. Die Kommission allein? Da sollte sich was ändern. Mehr Möglichkeiten zur politischen Initiative des Europäischen Parlaments wären gut. Der Verfassungsentwurf geht ja bereits in diese Richtung. Das wichtigste aber ist: Europa muss endlich Gesichter haben. Stellen Sie sich einmal vor, in Deutschland wäre Bundestagswahl, und es ginge nicht darum, dass am Ende ein Bundeskanzler bestimmt würde. Was hieße das für die Wahlbeteiligung?

SZ: Heißt das, Sie wollen den Kommissionspräsidenten künftig wählen lassen?

Müntefering: Zumindest muss man weiter darüber nachdenken, ob das bisherige System so anonym und indirekt bleiben kann. Das zweite Problem ist, dass es der Kommissionspräsident in seiner fünfjährigen Amtszeit mit zehn Ratspräsidentschaften zu tun bekommt.

SZ: Also zwölf statt sechs Monate Präsidentschaft?

Müntefering: Noch länger. Zwei oder zweieinhalb Jahre

SZ: Dann wäre Deutschland aber erst um das Jahr 2060 herum wieder dran...

Müntefering: Man kann das ja anders organisieren, etwa indem drei Länder die Präsidentschaft gemeinsam übernehmen - kurzum: Auch diese Debatte sollten wir führen, ohne dass ich hier bereits festgelegt wäre.

SZ: Wie lange wollen Sie persönlich denn noch in Europa mitmischen? Sie haben einmal gesagt, 2009 seit mit dann 69 Jahren Schluss, kürzlich aber ein wenig scherzhaft erklärt, sie würden gerne noch zehn Jahre Minister bleiben.

Müntefering: Nach allen Regeln der Wahrscheinlichkeit ist 2009 Schluss. Aber auch nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit ist schon viel Unwahrscheinliches passiert.

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