Interview mit Angelika Beer:"Fischer hat die Grünen in die Beliebigkeit geführt"

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Ex-Parteichefin Angelika Beer zieht Bilanz nach 30 grünen Jahren. Ein Gespräch über die Leistungen und verratene Ideale.

Wolfgang Jaschensky

Angelika Beer gehört zu den Gründungsmitgliedern der Grünen und saß viele Jahre als Abgeordnete im Bundestag und im Europaparlament. Von 2002 bis 2004 war sie Parteichefin. Ihre politische Karriere begann Beer wie viele Grüne der ersten Stunde in den siebziger Jahren in Bürgerinitiativen, der Friedensbewegung und durch Proteste gegen Atomkraftwerke. Beer engagierte sich im Kommunistischen Bund und gründete die Liste für Demokratie und Menschenrechte in Schleswig-Holstein. Im März vergangenen Jahres verließ Beer die Grünen. Im November wurde sie Mitglied der Piratenpartei.

Nach 30 Jahren grüner Politik zieht Angelika Beer Bilanz und blickt zurück zu den Anfängen der Partei: "Wir haben die Menschen mit dieser verrückten neuen Idee konfrontiert". (Foto: Foto: dpa)

sueddeutsche.de: Frau Beer, Sie waren fast 30 Jahre lang Mitglied der Grünen. Vergangenes Jahr sind Sie ausgetreten. Ist Ihnen der Abschied schwergefallen?

Angelika Beer: Selbstverständlich! Ich bin Gründungsmitglied der Grünen und habe seitdem aktiv mit der Partei Politik gemacht. Wenn man nach 29 Jahren die Konsequenz ziehen muss, weil man nichts mehr bewegen kann, dann ist das eine schwere Entscheidung.

sueddeutsche.de: Wenn Sie auf 30 Jahre grüne Politik zurückblicken: Welche Leistungen Ihrer früheren Partei haben die Bundesrepublik verändert?

Beer: Wir haben es geschafft, aus einer Protestbewegung unterschiedlichster Art ein Bündnis zu formen, mit dem Anspruch Politik in Deutschland zu gestalten. Schon allein das war revolutionär. In drei Bereichen haben die Grünen die Politik nachhaltig verändert. Erstens natürlich: die Ökologie. Heute setzen sich alle Parteien in Deutschland damit auseinander. Das Zweite ist Ablehnung der Nutzung der Atomenergie. Und das Dritte die Quotierung: Erstmals hat eine Partei in Deutschland Frauen ermöglicht, gleichberechtigt auch in Führungsposition Politik zu machen.

sueddeutsche.de: Sind Sie stolz auf die Leistungen Ihrer Partei?

Beer: Ja natürlich, sonst hätte ich ja nicht 30 Jahre aktiv mitgemacht. Es waren für mich super Jahre bei den Grünen.

sueddeutsche.de: Wenn Sie sich an das Jahr 1980 erinnern, als die grüne Bundespartei gegründet wurde: Was hat die grüne Bewegung damals ausgemacht?

Beer: Es war eine Aufbruchstimmung in Deutschland. Die Grünen haben sie aufgenommen. Wir haben Diskussionen nach vorne getrieben - und uns jeden Tag auf die Straße gestellt. Wir haben die Menschen mit dieser verrückten neuen Idee konfrontiert. Es war eine Bewegung, die sichtbar war in der Aktion, im gesellschaftlichen Dialog. Es gab ein großes Zusammengehörigkeitsgefühl. Und irgendwo hatten wir eine Ahnung, dass wir die Chance haben, es gemeinsam zu schaffen, ein politischer Faktor in Deutschland zu werden.

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Beer: Ja, die alten Gesichter sind die Neuen. Ich denke an Jürgen Trittin oder Renate Künast oder Joschka Fischer. Der ist zwar nicht mehr aktiv, aber nach wie vor ein Grüner, der Gehör findet. Fischer hat die Grünen in die Beliebigkeit geführt, in der sie heute sind.

sueddeutsche.de Warum halten Sie die Grünen für beliebig?

Beer: Der Unterschied ist, dass wir damals gesagt haben: Die Macht kommt aus der Gesellschaft. Wir waren ein Instrument, um Politikverdrossenheit aufzugreifen und aufzubrechen. Es haben sich damals wahnsinnig viele Menschen engagiert, die zuvor in keiner Weise aktiv waren. Im Gegensatz dazu sind die Grünen heute ein Bestandteil der Politikverdrossenheit.

sueddeutsche.de: Was hat die Grünen so verändert?

Beer: Der unbedingte Wille zur Macht. Der Sündenfall war aus meiner Sicht die Abstimmung zum Afghanistan-Einsatz. Schröder hat die Vertrauensfrage an ein Votum in seinem Sinne gekoppelt. Da es bei den Grünen mehr kritische Parlamentarier gab als die Arithmetik erlaubt hatte, wurde ausgelost, wer gegen den Einsatz stimmen darf. Ich habe mich enthalten und zu Protokoll gegeben, dass der Parteitag über den Bruch der Koalition zu entscheiden habe. Da ist die Debatte aber unterdrückt worden. Das war für mich der Startschuss in die Beliebigkeit. Das Signal an Schröder war: Er muss nur drohen, dann folgen die Grünen schon - aus Angst vor der Opposition.

sueddeutsche.de: Nach dieser Entscheidung hatten Sie aber als Parteichefin zwei Jahre Zeit, den Kurs der Partei zu beeinflussen.

Beer: Leider war das mit einem Außenminister Joschka Fischer nicht möglich.

sueddeutsche.de: Für viele Grüne war die Entscheidung für einen Einsatz im Kosovo-Krieg zwei Jahre zuvor bereits der Grund, die Partei zu verlassen. Als verteidigungspolitische Sprechen der Grünen haben Sie damals den Kurs der Parteispitze unterstützt.

Beer: Ich habe meine Partei in einer Situation beraten, in der klar war, dass jede Entscheidung falsch ist und wir uns in einem unauflösbaren Dilemma befanden: Man gefährdet Menschenleben, wenn man nichts macht. Und wenn man einem Nato-Einsatz zustimmt, macht man sich ebenfalls schuldig. Ich habe mich damals für einen Einsatz ausgesprochen und stehe noch heute dazu. Das Entscheidende aber ist: Wenn eine Partei bereit ist, einen Krieg mitzutragen, dann ist sie zwingend der Friedensarbeit in der Zukunft verpflichtet. Diese Verpflichtung habe ich bei den deutschen Grünen nicht mehr erkennen können. Um dieser Verpflichtung nachzukommen, hätten die Grünen auch die Fehler von damals benennen müssen - und daraus lernen.

sueddeutsche.de: Welche Fehler waren das?

Beer: Zum einen sind einige der Versuchung erlegen, einen völkerrechtswidrigen Einsatz mit moralischen und historischen Argumenten - Stichwort: Auschwitz - zu rechtfertigen. Außerdem haben wir die Rechte des Bundestages aus der Hand gegeben. Das darf ein Parlament nie machen. Vor allem aber haben sich die Grünen später nicht der Friedensarbeit verpflichtet gefühlt. Ich bin bis heute viel auf dem Balkan, habe unter anderem eine Initiative gegründet zur Bildung von Schulpatenschaften. Das ist von den deutschen Grünen nie mitgetragen worden. Der Krieg war zu Ende - und die Grünen wollten über die eigene Verantwortung und Konsequenzen nicht mehr diskutieren.

sueddeutsche.de Sind Sie deshalb aus der Partei ausgetreten?

Beer: Auch, ja. In der wichtigen Frage von Krieg und Frieden habe ich bei den Grünen keine Glaubwürdigkeit mehr gesehen. Einer solchen Partei traue ich nicht mehr zu, beim nächsten Mal verantwortungsbewusst zu entscheiden.

sueddeutsche.de: Welche Fehler kreiden Sie Ihrer früheren Partei außerdem an?

Beer: Mich haben die Flügelarithmetik und die ständigen Kämpfe zwischen Fundis und Realos aufgerieben. Ich habe mich bewusst zwischen die Stühle gesetzt. Ich wusste, dass das einen hohen Preis haben wird. Aber es war für mich die einzige Möglichkeit, bei den Grünen Positionen zu vertreten, von denen ich überzeugt bin. Außerdem wurde innerparteiliche demokratische Debattenkultur zugunsten einer funktionierenden Regierungsphilosophie und einer Machtperspektive aufgegeben.

sueddeutsche.de: Jetzt sind die Grünen aber schon lange in der Opposition ...

Beer: ... und haben sie nach fünf Jahren noch immer nicht wiedererlernt. Die Parteispitze rennt noch immer dem Ziel von Joschka Fischer hinterher: Wie kommen wir schnellstmöglich an Ministerien heran? Die inhaltliche Positionen werden zugunsten des Ziels einer Machtbeteiligung geschliffen. Und der Nachwuchs wird nicht rechtzeitig nach vorne gelassen.

sueddeutsche.de: Haben die Grünen ihre Ideale von früher verraten?

Beer: Wer sich nicht bewegt, wer sich nicht verändert, der hat keine Chance, Politik zu gestalten. Aber ich glaube, dass die Entwicklung in die falsche Richtung gegangen ist. Als Politiker hat man zwei Möglichkeiten: Man kämpft in der Partei gegen den Mainstream - das habe ich eine Zeitlang gemacht - oder man sucht sich neue Bündnispartner. Letztlich will ich etwas bewegen, deshalb habe ich mich entschieden, die Grünen zu verlassen.

sueddeutsche.de: Nach einigen Monaten Bedenkzeit sind Sie der Piratenpartei beigetreten. Warum?

Beer: Ich habe mich lange orientiert. Die Piraten habe ich dann erst mit einzelnen Aktionen im Wahlkampf unterstützt, im Kampf gegen Rechtsextremismus zum Beispiel. Die Partei hat einen Kodex mit zehn Punkten, den ich gut finde und mit dem ich mich identifizieren kann. Mir geht es darum, Bündnisse mit Menschen zu schließen, um Politik zu verändern. Dieses Bündnis habe ich mit den Piraten gefunden - und deshalb bin ich hier vor Anker gegangen.

sueddeutsche.de: Werden die Piraten den Erfolg der Grünen wiederholen können?

Beer: Mit Sicherheit! Die Piraten sprechen mit Themen wie Bildung und Freiheit des Wissens sowohl die junge als auch die alte Generation an. Und sie wachsen sehr viel schneller als wir Grünen damals. Das ist ein atemberaubender Prozess. Ich hoffe, dass es gelingt, dieses rasante Wachstum in den nächsten Jahren so zu strukturieren, dass sich die Piraten in den Parlamenten wiederfinden. Schweden hat es geschafft: Es gibt einen Piraten im Europaparlament. Und die Piraten sind international organisiert, was von Vorteil ist, denn als nationale Bewegung kann man heute keine Politik mehr machen.

sueddeutsche.de: Aus welchen Fehlern der Grünen können die Piraten lernen?

Beer: Ich bin weit davon entfernt, den Piraten Ratschläge aus der Vergangenheit zu geben. Aber natürlich tauschen wir Erfahrungen aus. Wenn es etwa darum geht, Parteistrukturen aufzubauen. Oft gibt es ähnliche Problemfelder wie bei den Grünen. Aber ich setze mich nicht hin und sage: "So, jetzt müsst ihr das und das machen."

sueddeutsche.de: Die Linken haben es als erste Partei nach den Grünen geschafft, sich in der deutschen Parteienlandschaft zu etablieren. Sehen Sie Gemeinsamkeiten zwischen den Anfängen der Grünen und den Anfängen der Linken?

Beer: Die Linken sind etwas völlig anderes. Sie sind aus den Strukturen der SED entstanden. Das ist auch ihr Problem.

sueddeutsche.de: Ein Blick in die Zukunft: Wie müssen sich die Grünen verändern, um in Zukunft Erfolg zu haben.

Beer: Das müssen die Grünen selber wissen. Entscheidend wird, ob die Jungen genug Kraft, Mut und auch genug Frechheit haben, um den jetzigen Kurs der Spitze zu verändern.

sueddeutsche.de: Was glauben Sie, wo die Grünen in 30 Jahren stehen werden?

Beer: Vielleicht diskutieren sie, ob sie mit den Piraten eine Koalition eingehen.

sueddeutsche.de: Haben Sie einen Wunsch an Ihre alte Partei?

Beer: Ich hätte es toll gefunden, wenn die Grünen die Courage gehabt hätten, zum 30-jährigen Jubiläum alle ehemaligen Spitzenpolitiker der Partei einzuladen, egal ob noch Mitglied oder nicht. Auch um der Jugend zu zeigen, welche Breite diese Partei einmal abgedeckt hat. Diese Einladung ist leider nicht gekommen. Wäre doch toll gewesen, mit Jutta Ditfurth und Thomas Ebermann!

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