Interpol:49 983 Namen auf der Fahndungsliste

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Im Interpol-Hauptquartier in Lyon arbeiten 700 Polizisten, Juristen und Übersetzer. Aber nur 24 von ihnen prüfen die Fahndungsersuchen aus 190 Staaten vor der Veröffentlichung. (Foto: Jean-Philippe Ksiazek/AFP)

Interpol hat sich lange aus der Politik heraushalten können - bis der internationale Terror kam. Seitdem hat sich die Zahl der "red notices" vervielfacht, auch für Unschuldige. Ein Besuch im Hauptquartier.

Von Ronen Steinke, Lyon

Quai Charles de Gaulle, Hausnummer 200, das ist eine Adresse, die Zocker anlockt. Lange galt die gläserne Burg im französischen Lyon als eine Art Club Mediterranée für altgediente Polizeichefs aus aller Welt. Ihre Aussicht auf die sich dahinschlängelnde grüne Rhône war malerisch, man gönnte sich lange Mittagspausen, und im fünften Stock oben thronte über allem der Amerikaner Ronald K. Noble in einem Büro mit angeschlossener Penthouse-Wohnung und Dachterrasse.

Seit drei Jahren ist ein Deutscher an seine Stelle getreten, der einen neuen Geist der Nüchternheit verbreiten will bei der internationalen Kriminalpolizei-Organisation Interpol in Lyon; Jürgen Stock, ein früherer BKA-Beamter. Aber für die Repressionsapparate autoritärer Regimes gibt es hier noch immer einiges zu gewinnen. Wenn sie sich zu spekulieren trauen.

Informationsbörse Interpol

In der zurückliegenden Woche hat das der türkisch-deutsche, in Köln lebende Schriftsteller Doğan Akhanlı erlebt: In seinem Spanien-Urlaub wurde er festgenommen. Auf Geheiß der Regierung von Recep Tayyip Erdoğan in Ankara, die ihn seit 2013 unter fadenscheinigen Terrorvorwürfen zur Fahndung ausgeschrieben hat. Und vermittelt durch Interpol, die Polizei-Schaltstelle an der Rhône.

Die Türkei hatte darauf spekuliert, dass andere Staaten übersehen würden, dass Ankara mit Akhanlı eher eine politische Rechnung begleichen will als einen herkömmlichen Kriminellen fassen. Das hat funktioniert, weil Interpol keine Weltpolizei mit eigenen Ermittlern ist, sondern nur eine Informationsbörse, in die jedes Land einfüllen kann, was es möchte: Fahndungsersuchen, Vermisstenanzeigen. Die 700 Interpol-Mitarbeiter übersetzen das und verbreiten es, höflich und im Geiste politischer Neutralität, sodass alle 190 Mitgliedstaaten sich an einer Fahndung beteiligen können, wenn sie möchten. Fälle wie den von Akhanlı sollen sie eigentlich herausfiltern: "Jede Betätigung oder Mitwirkung in Fragen oder Angelegenheiten politischen, militärischen, religiösen oder rassischen Charakters ist der Organisation strengstens untersagt", heißt es Artikel 3 der Interpol-Statuten. Aber Fälle rutschen durch. Darauf bauen einzelne Staaten wie jetzt wieder die Türkei.

Spaniens Justiz hat zwar schnell gemerkt, dass sie auf Ankaras Spiel hereingefallen ist. Ein spanischer Richter setzte den Schriftsteller Akhanlı "vorläufig" wieder frei. In einer Weise, wie man es mit einem ernsthaft des Terrors Verdächtigen nie machen würde.

Trotzdem bleibt es für die Türkei ein Erfolg, das Spekulieren hat sich gelohnt: Dem Verfolgten wurde ein Schrecken eingejagt, ihm und anderen Erdoğan-Kritikern auch. Die Methode funktioniert immer wieder: In Deutschland wurde vor zwei Jahren, ebenfalls aufgrund eines Irrtums, ein Al-Dschasira-Journalist am Flughafen festgesetzt, weil das Regime in Ägypten ihn per Interpol als vermeintlichen Terrorverdächtigen angeschwärzt hatte. Viele Kurden, die in Deutschland als politische Flüchtlinge anerkannt sind, wurden von der Türkei auf die Interpol-Liste gesetzt, wie das SZ-Magazin vor zwei Jahren aufdeckte, auch die Exil-Autorin Pinar Selek. Sie alle müssen fürchten, dass jemand das irgendwann für bare Münze nimmt.

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Der von der Türkei gestellte Suchauftrag hatte zu diplomatischen Spannungen mit der Bundesrepublik geführt. Die Auslieferung des Kölner Schriftstellers ist damit nicht abgewendet.

Deutsche Sicherheitsbehörden könnten allerdings leicht etwas tun, um diese Menschen zu beschützen, geben die Interpol-Juristen in Lyon zu bedenken. Deutschland wusste schon seit 2010, dass der Schriftsteller Akhanlı von den türkischen Behörden mit fabrizierten Vorwürfen verfolgt wird. 2015 beantragte die Türkei nach SZ-Informationen sogar auf bilateralem Weg seine Auslieferung aus Köln. Die Akte von Akhanlı wurde damals, 2015, im Bundeskriminalamt aufgeklappt, dem deutschen Verbindungsbüro zu Interpol.

Bevor man die Akte wieder zuklappte und der Türkei mitteilte, dass Akhanlı schon wegen seines deutschen Passes nie ausgeliefert werden könne, muss aufgefallen sein, dass da ein "red notice" in den Papieren lag. Ein Interpol-Vermerk, der nach dem Farbencode der Organisation für die Bitte um Verhaftung steht.

Es wäre dann ein Leichtes gewesen für das BKA, Akhanlıs Namen von der Interpol-Liste herunternehmen zu lassen. Man sei froh, wenn man politisch Verfolgte von der Liste streichen könne, um so den "Missbrauch" des Interpol-Systems zu verhindern, sagt der Interpol-Generalsekretär Jürgen Stock der SZ. Länder sollten immer Informationen schicken, "die zu einer Neubewertung eines bestimmten Falles beitragen können". Seit Juni 2014 gilt sogar eine neue Regel in Lyon. Es genügt demnach, wenn ein Staat meldet, dass eine bestimmte Person bei ihm politisches Asyl genießt, auch ohne nähere Begründung. Schon wird die Person bei Interpol von der Liste gestrichen. Nicht, weil Interpol automatisch alles glaubt. Sondern weil Interpol sich in politischen Streit nicht einmischt.

Nur kommt da bislang kaum etwas. "Wenn Interpol nicht über den Asyl-Status einer Person informiert wird, kann das bei der Überprüfung von Fahndungsersuchen auch nicht berücksichtigt werden", sagt der Interpol-Chef Stock. Das ist der Teil des Akhanlı-Verfahrens, über den in den zurückliegenden Tagen nicht gesprochen wurde in Deutschland, nicht vom Innenminister, der die Türkei scharf zurechtwies, und auch nicht von Politikern verschiedener Parteien, die teils forderten, man solle die Türkei aus dem Interpol-Tauschring ausschließen.

Interpol-Chef Jürgen Stock, 57, war zuvor Vizepräsident des Bundeskriminalamts. (Foto: Andrew Harnik/AP)

Erst am Freitag hob Interpol die "red notice" für Akhanlı auf. Das Zocker-Spiel funktioniert freilich auch deshalb, weil Interpol selbst Fehler macht. Nach einem Bericht des Europarats, der sich den Umgang mit den heiklen "red notices" näher angesehen hat, ist Interpol immerhin sorgfältiger geworden bei der Überprüfung von Fahndungsersuchen. Der Berichterstatter des Europarats ist der Bundestagsabgeordnete Bernd Fabritius (CDU), er sagt: "Das Jahr 2016 hat eine Wende gebracht." 24 Mitarbeiter zählen jetzt zu der sogenannten Task Force von Interpol, die "politische" Fälle aussondern soll, fast doppelt so viele Leute wie 2013. Sechs Juristen kümmern sich jetzt in Vollzeit, "legal advisors" mit speziellen Fachkenntnissen im internationalen Strafrecht. Das war vorher anders. Aber Fabritius sagt: "Das ist natürlich immer noch viel zu wenig." 11 492 "red notice"-Fahndungen hat Interpol im Jahr 2015 veröffentlicht, 49 983 Namen stehen aktuell auf der Fahndungsliste - wie gründlich kann das kleine Team da hinsehen?

Im vergangenen Jahr ist immerhin auch die Beschwerdestelle aufgestockt worden, an die sich Betroffene wenden können. Die Commission for the Control of Files, kurz CCF, besteht jetzt aus sieben Juristinnen und Juristen unter Vorsitz des früheren moldawischen Justizministers Vitalie Pîrlog. Aber sie treffen sich weiter nur vier Mal pro Jahr, und wer Auskunft erhalten möchte, ob er bei Interpol gespeichert ist, muss bis zu drei Monaten warten. Wer sich zu Unrecht verfolgt sieht und gelöscht werden möchte, bis zu ein Jahr.

Bis zum 11. September 2001 suchte der Polizei-Verbund nur Dealer oder Kinderschänder

Um zu verstehen, wie schläfrig diese Bemühungen auf viele Fachleute noch immer wirken, hilft es zu sehen, wie die Fallzahlen bei Interpol gleichzeitig in die Höhe geschnellt sind. Seit 2005 hat sich der jährliche Ausstoß von "red notices" verfünffacht. Lange hatte es Interpol geschafft, sich herauszuhalten aus politischen Dingen, man beschränkte sich auf unumstrittene Delikte, Drogendealer, Autoschieber, Kinderschänder. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 ging das nicht mehr. Mehrere UN-Resolutionen, EU-Verordnungen und letztlich 2004 auch eine Resolution der Vollversammlung der Interpol-Länder forderten, dass gegen den Terror alle Nationen zusammenstehen müssten. Bis dahin war Terrorismus als politisches Delikt par excellence ganz ausgeklammert worden, Interpol lehnte Fahndungsersuchen ab. Seither können Personen auch dann "red notices" bekommen, wenn sie in einer terroristischen Vereinigung nur Mitglieder sein sollen, ohne eine Gewalttat. Den Vorwurf darf Syriens Regime genauso erheben wie Russland oder Vietnam. Vor dem Interpol-Glasbau sind alle gleich.

So hat Interpol einen großen Teil seiner politischen Distanz aufgeben müssen, so sitzt die Organisation nun immer öfter zwischen Fronten, wenn Staaten streiten, ob etwa die Muslimbrüder oder die Gülen-Anhänger Terroristen sind oder Opposition. Das Handbuch, das die juristischen Entscheider in Lyon dann hernehmen, ist 48 Seiten dick. Im Zweifel orientiert man sich an der UN-Terrorliste. Aber die kennt viele kleine Splittergruppen nicht und ist in ihren Wertungen oft umstritten. Zocker etwa in Ankara müssen nicht sehr ausgebufft sein, um darauf zu spekulieren, dass immer wieder Fälle durchrutschen und auch friedliche Oppositionelle irrtümlich als "Terroristen" durchgehen.

© SZ vom 26.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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