Internationales Strafgericht:Das Grauen eines kurzen Krieges

File photo of a Georgian man crying as he holds the body of his relative after a bombardment in Gori

Fast vergessene Tragödie: Im Krieg um Südossetien 2008, hier die Stadt Gori nach einem Bombenangriff, kam es auch zu Vertreibungen.

(Foto: Gleb Garanich/Reuters)

Das Tribunal in Den Haag will erstmals Kriegsverbrechen außerhalb Afrikas ahnden. Es geht um den Konflikt in Südossetien 2008, in den Georgien und Russland verwickelt waren.

Von Frank Nienhuysen und Ronen Steinke

Der Internationale Strafgerichtshof (ICC) will erstmals Verdächtige außerhalb Afrikas wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit anklagen. Die Wahl ist auf Osteuropa gefallen. Die Dramatik dieser Entscheidung, welche die Haager Chefanklägerin Fatou Bensouda den Richtern zur Bestätigung vorgelegt hat, ist zwischen juristischen Formulierungen gut verborgen: die Anklägerin wolle aus ihren Vorermittlungen zum Krieg um Südossetien im Jahr 2008 ein richtiges Ermittlungsverfahren machen. Praktisch bedeutet dies, sie will beginnen, Namen zu nennen.

"Individualisierung mit Blick auf konkrete Tatverdächtige", nennt das der in Göttingen lehrende Völkerstrafrechtler Kai Ambos. Damit stehen nun Vertreter aller drei ehemaligen Kriegsparteien, also Georgiens, Russlands sowie südossetischer Milizen, vor der Frage, wer sich vor einer Anklage in Acht nehmen muss. Vertreter Russlands sind nicht dadurch geschützt, dass ihr Land dem ICC nicht beigetreten ist. Der mutmaßliche Tatort lag in Georgien, einem ICC-Mitglied; das genügt.

Wenn die Haager Richter dem Antrag der Chefanklägerin stattgeben - und sie haben das noch in keinem Fall bisher ganz verweigert -, beginnen die Staatsanwälte bald, einen weiteren Gerichtsprozess vorzubereiten, wie sie ihn derzeit gegen einen Tutsi-Milizenführer, einen kongolesischen Warlord und den ehemaligen Präsidenten der Elfenbeinküste führen.

Georgien hat den Ermittlern nach Angaben der Regierung Material über mehrere Tausend Befragungen übergeben, welche die Gegenseite belasten sollen, also Russland und die damals von Russland unterstützten Separatisten in Südossetien. "Wir werden natürlich mit dem Gericht kooperieren", sagt der georgische Außenminister und Vizepremier Giorgi Kwirikaschwili der Süddeutschen Zeitung. Das "Konfliktgebiet", das seit 2008 abtrünnig ist und heute von Russland kontrolliert wird, "konnten wir dafür natürlich nicht betreten, aber wir hoffen, dass das Gericht dies kann". Für den Außenminister ist der Fall klar: "Wie kann man das auch verschieden interpretieren, da gibt es nur eine Geschichte: die Okkupation, die Invasion von russischem Militär, ethnische Säuberung. Wir haben 400 000 Binnenflüchtlinge in diversen Landesteilen von Georgien, und es gibt zwei neue Militärstützpunkte auf unserem Territorium."

Russland seinerseits will dem Haager Gericht ebenfalls Dokumente zur Verfügung stellen. Der Leiter der russischen Ermittlungsbehörden, Alexander Bastrykin, kündigte schon vor einigen Wochen bei einem Auftritt vor Studenten der diplomatischen Kaderschmiede an, dass Russland 500 Bände mit Ermittlungsergebnissen habe, die an das Gericht übergeben würden. Die internationale Gemeinschaft ignoriere bisher einige "ernsthafte Ergebnisse" russischer Ermittlungsarbeit. Für Moskau ist das Verhalten des georgischen Militärs "ein militärisches Verbrechen" gewesen.

Auch Moskau will dem Gericht in Den Haag Dokumente überlassen

Klar ist, dass schon die bloße Benennung als Verdächtiger in Den Haag ein Stigma bedeutet. Klar ist auch: Die ICC-Ermittler dürfen, sobald ihnen die Richter die Zustimmung erteilen, auf leisen Sohlen ermitteln, sie können Haftbefehle "versiegelt" erwirken, wie es in der anglo-amerikanisch geprägten Prozessordnung des Gerichts heißt, also geheim. Irgendwann, wenn der Gesuchte an einem Flughafen in eine Kontrolle gerät, schnappen die Handschellen zu; erst dann erfährt er, dass er auf der Fahndungsliste stand.

Im Antrag der ICC-Chefanklägerin heißt es nun, die Ermittlungen sollten sich auf Verbrechen zwischen dem 1. Juli und dem 10. Oktober 2008 erstrecken. Russland und Georgien hatten in dieser Zeit um die abtrünnigen georgischen Provinzen Abchasien und Südossetien gekämpft. Danach erklärten beide Regionen ihre Unabhängigkeit, Russland erkannte dies an. Eine von der EU eingesetzte internationale Untersuchungskommission unter Leitung der Schweizer Diplomatin Heidi Tagliavini hatte im Herbst 2009 Georgien vorgeworfen, diesen Krieg ausgelöst zu haben. Kurz vor Mitternacht, um 23.35 Uhr des 7. August 2008, hatte der damalige georgische Präsident Michail Saakaschwili den Befehl zu einem Militärangriff gegeben. Die politische Ursachenkette indes wird in Den Haag eine geringe Rolle spielen, der Straftatbestand des Angriffskriegs wird dort nicht angewandt, stattdessen geht es nur um Vergehen im Krieg. "51 bis 113 Zivilisten" seien bei den Aktionen der Südosseten, an denen möglicherweise auch russische Soldaten beteiligt waren, getötet worden, so der Vorwurf der Haager Ankläger.

Für den ICC ist dies der lang erwartete erste Schritt aus Afrika hinaus. Die Juristen dort haben bereits 32 Männer und eine Frau aus insgesamt acht Staaten ins Visier genommen, seitdem sie im Jahr 2003 ihre Arbeit aufnahmen - aber ausschließlich Afrikaner. Es mag überraschen, dass die Chefanklägerin sich nun ausgerechnet den vergleichsweise kleinen Konflikt in Georgien ausgesucht hat.

Aber das Statut des Gerichtshofs gibt ihr die Freiheit, wählerisch zu sein. Die rechtspolitischen Ratschläge, wohin sie ihre Aufmerksamkeit richten sollte, füllen viele Regalmeter in juristischen Bibliotheken. Ihre Strategie ist von Beginn an deutlich gewesen. Sie konzentriert sich auf Signal-Prozesse, die eine Botschaft an andere Warlords aussenden: Prozesse etwa gegen den Einsatz von Kindersoldaten, oder zuletzt gegen die Einschüchterung von Wählern am Beispiel Kenias.

Wenn die Chefanklägerin nun entscheidet, Georgien in den Fokus zu nehmen, so müsse man dies auch vor dem Hintergrund des aktuellen Ukraine-Konflikts sehen, sagt ein hochrangiger Jurist am ICC, der allerdings kein Ankläger ist. Der Krieg von 2008 gilt heute manchen als Blaupause für Russlands Vorgehen in der Ukraine.

Würde der ICC Russland zurechtweisen, so könnte Georgien dies auch als Rückendeckung nutzen. Noch immer gibt es rund um Südossetien heftige Spannungen mit Russland. Die südossetische Führung hat erst vor einigen Wochen angekündigt, per Referendum über den Anschluss an Russland abstimmen zu lassen.

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