Integrationsgipfel im Kanzleramt:Und immer droht der Untergang

Die Teilnehmer des Integrationsgipfels haben viel Gutes angeregt. Doch das Knäuel aus Sozial- und Identitätsdebatte haben sie nicht entwirren können. Schlimmer noch: Am Ende steht sogar mehr Verwirrung.

Matthias Drobinski

Die Nacht war lau, als die Staatsgewalt an ihre Grenzen kam. Junge Männer pöbelten und provozierten Schlägereien. Die Polizei fuhr vor, die Gewalttäter lachten die Beamten aus. In dieser Nacht waren sie, sonst arm und arbeitslos, die Herren.

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Die Teilnehmer des Integrationsgipfels haben zwar viel Gutes angeregt - doch auch Verwirrung gestiftet.

(Foto: dapd)

Gegen Morgen stellten zwei Hundertschaften Polizei und ein Wasserwerfer den Frieden wieder her, in Hannover, im Mai 1953. Nicht auszudenken, wenn das im September 2010 passiert wäre, in Berlin-Neukölln; und wenn die jungen Männer keine "Halbstarken" wären, wie man damals sagte, sondern Muslime aus dem Libanon. Der Integrationsgipfel im Kanzleramt wäre zum Krisengipfel geworden.

Das Gedankenspiel zeigt, warum das Knäuel so schwer entwirrbar ist, mit dem sich die Integrationspolitik herumschlägt. Da sind zunächst jene Fragen, die seit hundert Jahren jeder Staat beantworten muss, der soziale Unterschiede durch sozialstaatliches Handeln begrenzen will.

Wie viel Eigenverantwortung kann der Staat von denen verlangen, die er unterstützt? Wie weit kann er Bildungsdefizite verringern, wie soll er auf Gewalt reagieren: mit mehr Sozialarbeit oder mehr Polizei? Zum guten Teil ist die Integrationsdebatte eine Sozialdebatte: Deutschland warb einst um ungelernte Arbeiter, dies ist eine der Folgen.

Kulturelle Überlebensfragen

Sie ist aber mehr als nur eine Sozialdebatte. Sie ist genauso eine Identitätsdebatte der deutschen Mehrheit - darum, wie viel Fremdheit sie sich wünschen soll und zumuten muss, wie viel Homogenität sie braucht, und ab wann der Versuch gefährlich wird, Homogenität zu erzwingen.

Diese deutsche Identitätssuche überlagert die Sozialdebatte, sie macht sie ideologisch, sie stilisiert soziale Fragen zu kulturellen Überlebensfragen. Die Deutschkurs-Verweigerer, Sozialhilfebetrüger, Gewalttäter sind dann mehr als nur Regel- und Gesetzesbrecher - sie werden zum angeblichen Menetekel der Selbstaufgabe des Abendlandes.

Nur so ist der Erfolg von Thilo Sarrazin zu verstehen, der geschickt Sozialdarwinismus mit Fremdenabwehr kombiniert hat. Nur so ist der Islamhass zu verstehen, der derzeit wächst und in einer Weise aggressiv wird, dass einem angst und bange werden kann. Es geht um Identität durch Abgrenzung und Ausgrenzung.

Die Teilnehmer des Integrationsgipfels haben viel Gutes angeregt: Integrationsvereinbarungen, mehr Bildung, bessere Schulabschlüsse. Das Knäuel aus Sozial- und Identitätsdebatte haben sie nicht entwirren können, dabei wäre das so nötig. Schlimmer noch: Die wichtigsten Protagonistinnen des Gipfels haben zu weiterer Verwirrung beigetragen.

Multikulti sei gescheitert, haben erst Bundeskanzlerin Angela Merkel und dann die Integrationsbeauftragte Maria Böhmer gesagt. Was soll das heißen? Dass Integration kein immerwährendes Straßenfest ist? Das wäre eine verzichtbare Binsenweisheit. Wenn Merkel und Böhmer aber jene bedienen wollen, die Identität durch Ausgrenzung suchen, schadet der Satz mehr, als zehntausend Deutschkurse gutmachen können.

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