Integration:In der Grauzone

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Dmitrij Belkin beschreibt seinen Weg als jüdischer "Kontingentflüchtling" aus der Ukraine in das Land der Täter. Er erlebt den Umgang der Bundesrepublik und der jüdischen Gemeinden mit dem Holocaust - und wird dabei "erwachsen".

Von Robert Probst

Wäre man hier auf der Belletristik-Seite, wäre das Urteil schnell gefällt: Vor uns liegt ein Entwicklungsroman. Steht ja auch vorne drauf. "Wie ich in Deutschland jüdisch und erwachsen wurde". Dmitrij Belkin erzählt in "Germanija" seine Geschichte, sie spielt in einer Sphäre zwischen jüdisch und christlich, religiös und säkular, sowjetisch, russisch, ukrainisch und deutsch. Es ist die Geschichte einer Selbstfindung - aber auch eine Geschichte der Integration, eine kluge Analyse des jüdischen Gemeindelebens in Deutschland und ein Diskurs über den Umgang mit dem Holocaust in der Bundesrepublik nach der Wiedervereinigung.

Erzählt wird zunächst von einer scheinbar längst vergangenen Zeit. Dabei ist es gar nicht so lange her, dass etwa 250 000 jüdische "Kontingentflüchtlinge" aus der zerfallenen Sowjetunion in Deutschland aufgenommen wurden. Sie kamen zwischen 1991 und 2005 hier an, erhielten sofort eine unbefristete Arbeitserlaubnis und durften arbeiten - und niemand regte sich groß darüber auf. Allein dieser Kontrast zum Jahr 2015 macht einen großen Reiz dieser Betrachtungen aus. Belkin kommt 1993, er flieht nicht vor einem Krieg, ist nicht mal "richtig" jüdisch - sein Vater war Jude, seine Mutter nicht - und hat auch nicht unbedingt vor, ewig zu bleiben. Doch dem Grundthema dieser Reise nach Westen kommt Belkin von Anfang an nicht aus: Die Deutschen "dachten, sie retten uns vor Antisemitismus und Totalitarismus und tun damit etwas für ihr Gewissen". Oder anders gesagt: "Wir waren wichtiges symbolisches Kapital, das man sehr preiswert erworben hat."

Die Geschichte des ukrainischen Geschichtsstudenten Belkin zum jüdischen Deutschen mit Heimatgefühl ist kurzweilig, voller Humor, kleinen Anekdoten, die mehr erzählen als ein Seminar bei Politologen oder Soziologen, und auch voller Ernsthaftigkeit. Man lernt viel darüber, wie das deutsche Judentum nach 1945 das Land der Täter betrachtet, dass die postsowjetischen Zuwanderer hier offener agieren und gleichzeitig nicht jedes Vorurteil erfüllen, das über sie verbreitet wird.

Dmitrij Belkins Buch spielt in einer Grauzone verschiedener Identitäten, in einem Land voller Brüche. Damit ist "Germanija" ganz gut getroffen.

Dmitrij Belkin : Germanija. Wie ich in Deutschland jüdisch und erwachsen wurde. Campus-Verlag, Frankfurt 2016, 202 Seiten. 19,95 Euro.

© SZ vom 07.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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