Innovationen in der EU:Wie Estland den digitalen Traum exportieren will

Ostseetourismus Estland Tallinn

Die Altstadt der estnischen Hauptstadt Tallinn ist wegen der Hanse-Vergangenheit mittelalterlich geprägt. Der Alltag dort ist jedoch so digital geprägt wie in kaum einer anderen europäischen Stadt.

(Foto: dpa)

Wo die Menschen online Verträge abschließen und das Wohnzimmer zum Wahllokal wird: Das kleine Estland gilt als "digitaler Tigerstaat" und würde gern die ganze EU voranbringen. Doch Brüssel ziert sich. Und so macht der baltische Staat Ausländern ein ganz besonderes Angebot.

Ein Gastbeitrag von Anna Karolin, Tallinn

Die 26 Jahre alte Estin Anna Karolin arbeitet bei der Good Deed Foundation und beendet gerade ihr Politik- und Verwaltungsstudium an der Universität von Tartu. Als Debattiertrainerin hat sie mehrere Jugend-Bildungsinitiativen mitentwickelt, unter anderem das Model European Parliament.

Ich besitze zwei Laptops (beruflich und privat), ich lese am Tablet und habe ein leistungsfähiges Smartphone, mit dem ich Dinge verfolge, telefoniere und fotografiere. Ich nutze die gängigen sozialen Medien und kann mich innerhalb von ein paar Stunden in benutzerfreundliche Software einarbeiten. Ich kann zwar noch nicht programmieren, werde aber bald einen Online-Kurs belegen, um es zu lernen.

Mit diesen Kenntnissen bin ich nichts Besonderes, sondern nur eine junge, digital gebildete Estin. Meine Regierung macht es mir allerdings auch leicht, ein digitales Leben zu führen. Das Ausfüllen der Steuererklärung online dauert nur ein paar Minuten, die meisten Dokumente erhält man digital und die wichtigste Interaktion zwischen mir und meinem Staat - das Wählen - kann auch mit ein paar Klicks erledigt werden.

Im Mittelpunkt dieses digitalen Spektakels stehen die digitale Signatur. Jeder Bürger Estlands muss einen Personalausweis haben, der mit einem elektronischen Datenchip versehen ist. Auf dieser ID-Karte sind persönliche Daten und eine nur mir, Anna Karolin, vorbehaltene Zahlenfolge gespeichert. Um diese nutzen zu können, brauche ich eine spezielle Software, ein Kartenlesegerät und zwei PIN-Nummern. So kann ich dann online Verträge unterzeichnen, sämtliche Dienstleistungsgeschäfte nutzen und Dokumente ansehen, die von anderen unterzeichnet wurden.

Lange nicht mehr mit der Hand unterschrieben

Meine elektronische Signatur ist rechtlich der normalen Unterschrift gleichgestellt. Aber um ehrlich zu sein, habe ich in letzter Zeit nichts mehr mit der Hand unterschrieben. Die Daten auf der Karte sind umfangreich verschlüsselt und komplett sicher. Bislang wurde kein einziger Fall von Datendiebstahl berichtet. Viele Menschen sehen das skeptisch, vergessen aber, dass wir bereits in einer Welt leben, die von Datenchips beherrscht wird - zum Beispiel im Bankensystem.

Will man bei Wahlen online abstimmen, nutzt man dieselbe Karte. Das Wählen funktioniert mittels einer e-Voting-Anwendung, die meine Stimme auf die gleiche Art und Weise verschlüsselt, wie meine schriftliche Stimmabgabe in einem Umschlag zum Auszählen weitergeleitet wird. Ein äußerer Umschlag mit meinen Daten wird hinzugefügt, um sicherzustellen, dass meine Stimme registriert ist.

Die elektronische Stimmabgabe erfolgt ungefähr eine Woche vor dem Wahltermin. Und sollte ich mich doch entscheiden, in ein Wahllokal zu gehen, wird meine elektronische Stimmabgabe gelöscht. Bei der Europawahl im Mai 2014 haben 11,5 Prozent der Esten online abgestimmt, mich eingeschlossen. Das System wurde kritisiert, aber scheint momentan sicher zu sein.

Bei X-road wurden die Datenbanken der Behörden vernetzt, was sicheren internetbasierten Datenaustausch zwischen den Informationssystemen des Staates ermöglicht - dies erleichtert den Austausch, aber auch den ausreichenden Schutz der Daten. Dank X-road muss man ein Dokument nicht mehr bei diversen Behörden vorzeigen. Es ermöglicht den papierlosen elektronischen Staat. Ich kann meine Daten mit meiner ID-Karte auf X-road einsehen und erhalte so wichtige Informationen über meine Krankenversicherung, Straftaten oder sonstige Daten, die die Regierung über mich speichert. Jede Anfrage einer Behörde wird aufgezeichnet und ist für mich sichtbar. Das garantiert Transparenz.

Mit ein paar Klicks ein Unternehmen gründen

Oft wird gesagt, dass sich Estland durch den digitalen Fortschritt von anderen Staaten unterscheidet und dass dies unser strategischer Vorteil auf den Weltmärkten sein könnte. Unsere Regierung ist sehr darum bemüht, mit anderen Staaten zusammenzuarbeiten, um unsere Lösungen zu exportieren und bei der Entwicklung neuer zusammenzuarbeiten (ich grüße die anderen beiden "digitalen Tiger", Finnland und die Niederlande).

Auch für die Europäische Union könnte die digitale Innovation von strategischer Bedeutung sein. Die digitale Agenda der EU nimmt für sich in Anspruch, mit Hilfe von 101 Aktivitäten die Wirtschaft der EU anzukurbeln und den Bürgern alle Vorteile der digitalen Entwicklung zugute kommen zu lassen, aber aus estnischer Sicht macht Europa dabei nichts richtig.

Angeblich gab es Versuche, die Idee einer digitalen Unterschrift bei EU-Treffen einzuführen. Aber die meisten Regierungschefs scheinen nicht zu verstehen, wie das funktioniert oder wie es sicher gestaltet werden kann. Auf EU-Ministertreffen werden düstere Szenarien über die Zukunft der Eurozone gezeichnet, doch solange wir unsere Aufmerksamkeit nicht systematisch darauf richten, unsere Volkswirtschaften weiterzuentwickeln und innovativ zu gestalten, werden diese düster bleiben.

Anders herum betrachtet, stelle man sich nur einmal das Ausmaß an Effizienz im heiß ersehnten EU-Binnenmarkt vor, wenn das Schließen von Verträgen oder Unternehmensgründungen nicht mehr einige Monate dauern, sondern mit ein paar Klicks erledigt sind.

Wenn aber die digitale Innovation von EU-Vertretern schon dabei endet, Nachrichten über ihre Treffen zu twittern, dann haben wir ein Problem.

Oft wird gesagt, Estland habe es leicht - unsere Einwohnerzahl von 1,3 Millionen entspricht einem Stadtteil in London. Das stimmt zum Teil, da wir Esten es mit Sicherheit leichter hatten, nach unserer Unabhängigkeit vor 23 Jahren ein modernes Regierungssystem aufzubauen.

Es ist gut, wenn manchmal übertrieben wird

Doch zur ganzen Wahrheit gehört auch das Eingeständnis, dass wir den digitalen Traum noch nicht völlig realisiert haben. Die Vorteile der Digitalisierung haben noch längst nicht alle Esten erreicht. Viele Erwachsene, die mit dem sowjetischen Bildungssystem aufgewachsen sind oder kurz danach, hinken hinterher. Laut einer Studie der OECD über die Fähigkeiten von Erwachsenen mangelt es estnischen Arbeitern an Computerkenntnissen - ungefähr 16 Prozent gaben an, unsicher bei der Verwendung von Computern am Arbeitsplatz zu sein und 10 Prozent der Befragten hatten noch nie in ihrem Leben einen Computer benutzt. Nordische Staaten und Japan liegen weit vor uns. Hoffentlich wird es unserem Bildungssystem gelingen, diese Ungleichheiten zwischen den Generationen zu beseitigen.

In unseren Medien wird seit dem Beitritt zur EU und zur Nato diskutiert, dass Estland kein großes, die Gesellschaft einigendes Thema habe, oft heißt es dann: "Wir haben kein eigenes Nokia".

Komm und sei Teil der digitalen Geschichte!

Wir sind mächtig stolz, dass der Internet-Telefondienst Skype in Estland erfunden und entwickelt wurde (Details hier). Doch auch wenn nicht jeder Este heutzutage ein IT-Experte ist, kann und sollte es unser nächstes großes nationales Projekt sein, ein neues Skype zu schaffen.

Ich bin glücklich, wenn eine etwas übertriebene Darstellung des estnischen digitalen Traums ihre Wirkung zeigt und politisch Handelnde dazu inspiriert, Ressourcen für etwas einzusetzen, von dem sie nicht viel verstehen, das aber erfolgversprechend und innovativ ist. Estnische Politiker twittern nicht nur, sondern setzen alles daran, das beste Umfeld für junge Start-ups zu schaffen. Ich würde mir wünschen, dass andere EU-Mitgliedstaaten Teil dieser Geschichte werden.

Und nun können sie es.

Wenn Sie den Eindruck haben, dass Ihre europäische Regierung zu denen gehört, die etwas hinterherhinkt, können Sie nun bei E-stonia mitmachen und Ihre eigene ID-Karte für Nichtansässige erwerben. Der vom IT-Visionär Taavi Kotka ausgearbeitete Plan einer "elektronischen Staatsbürgerschaft" für Nicht-Esten, womit auch der Einsatz elektronischer Ausweise jenseits estnischer Grenzen verbunden wäre, wird Realität.

Dadurch können Ausländer die angenehmen elektronischen Dienstleistungen Estlands nutzen wie etwa die Eröffnung von Bankkonten oder die Gründung von Firmen, ohne auch nur einen Fuß ins Land zu setzen. Weltweit vertretene e-Botschaften werden bei der Verbreitung der Bürgerschaften helfen und je mehr Menschen daran teilnehmen, umso mehr globale Dienstleistungen können geschaffen werden. Kommen und seien Sie Teil der digitalen Geschichte!

Dieser Artikel erscheint im Rahmen der Kooperation "Mein Europa" von Süddeutsche.de mit dem Projekt FutureLab Europe der Körber-Stiftung. In der Serie kommen junge Europäer zu Wort - streitbar, provokativ und vielfältig.

An English version of the text will be available at the website of FutureLab Europe.

Übersetzung: Dorothea Jestädt

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