Innere Sicherheit:Gravierende Polizeipanne im Fall von 15-jähriger Attentäterin Safia S.

Bundeskriminalamt in Wiesbaden

Das Bundeskriminalamt in Wiesbaden. Mehr als 500 Personen in Deutschland gelten als "Gefährder" - die Polizei kann unmöglich alle rund um die Uhr überwachen.

(Foto: Fredrik von Erichsen/dpa)
  • Die Zahl der Verdächtigen ist enorm angestiegen, das BKA hob die Anzahl der sogenannten Gefährder gerade auf etwa 500 Personen an.
  • Zwei islamistisch motivierte Anschläge hat das Land in diesem Jahr erlebt: einen Messerangriff auf einen Polizisten und einen Bombenanschag auf einen Sikh-Tempel.
  • In beiden Fällen liegen nach Recherchen von Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR Hinweise darauf vor, dass Anzeichen zuvor übersehen oder nicht ernst genug genommen wurden.

Von Lena Kampf und Georg Mascolo, Berlin

In diesen Wochen kommt beim deutschen Bundeskriminalamt ein neues Computerprogramm zum Einsatz, es heißt "Radar" und wurde gemeinsam mit einer Schweizer Universität entwickelt. Es ist ein sogenanntes Risiko-Analysesystem und soll der Polizei dabei helfen, eine drängende Frage zu beantworten: Wer unter den deutschen Islamisten ist besonders gefährlich, wem kann und muss man womöglich auch einen Anschlag zutrauen?

Nach der Antwort auf diese Frage suchen Sicherheitsbehörden in aller Welt. Denn nach den islamistisch motivierten Terrortaten in den USA, in Europa und in der Türkei folgt auf die Identifizierung der Täter meist ein Moment der Erkenntnis: Die Täter waren bekannt, gegen sie wurde ermittelt, manchmal waren sie gar bereits wegen einschlägigen Verbindungen in die terroristische Szene vorbestraft. So war es in Orlando und zuletzt beim Polizistenmord in Frankreich. "Radar" kommt nun zu einem Zeitpunkt zum Einsatz, da sich auch in Deutschland die Frage stellt, ob man gut genug darin ist, die Gefährlichen von den Ungefährlichen zu unterscheiden.

Die Zahl der Verdächtigen ist enorm angestiegen, das BKA hob die Anzahl der sogenannten Gefährder gerade auf etwa 500 Personen an. Alle kann man nicht überwachen, argumentieren die Sicherheitsbehörden nicht nur in Deutschland. Zwei islamistisch motivierte Anschläge hat das Land in diesem Jahr erlebt, im Februar in Hannover und im April in Essen. In beiden Fällen liegen nach Recherchen von Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR Hinweise darauf vor, dass Anzeichen zuvor übersehen oder nicht ernst genug genommen wurden.

Sie habe Urlaub machen wollen in Istanbul, erzählte Safia S.

Die Fälle zeigen, dass Ermittlungsbehörden in Deutschland dringend Antworten finden müssen: Wie konkret müssen Islamisten Anschlagspläne formulieren, damit Ermittlungsbehörden aktiv werden können? Wie entscheidet man, was eine jugendliche Gewaltfantasie ist und was eine ernste Tatplanung? Wie findet man diejenigen, die zum Töten bereit sind?

Sie habe Urlaub machen wollen in Istanbul, erzählte Safia S. den Polizisten, als sie am 26. Januar 2016 in Hannover-Langenhagen gelandet war. Ihre Mutter hatte sie vier Tage zuvor als vermisst gemeldet und befürchtete, die 15-Jährige wolle sich nach Syrien absetzen. Nun behauptete die Schülerin etwas von "Interesse an Sehenswürdigkeiten". Die Beamten glaubten Safia S. nicht. Sie notierten, sie mache "nachweislich falsche Angaben". Die Zugangscodes zu ihren Handys wollte Safia S. nicht verraten.

Auf ihrem von der Polizei sichergestellten Telefon waren Chats gespeichert, die nahelegen, dass Safia S. mit einem Auftrag zurückgekehrt war: Sie will in Deutschland einen Anschlag begehen, im Namen des "Islamischen Staats" (IS). Genau einen Monat später, am 26. Februar, sticht Safia S. am Hannoveraner Hauptbahnhof auf den Bundespolizisten Stefan K. ein. Er wird am Hals verletzt, die Wunde ist lebensbedrohlich.

Safia S. sprach in Chat-Nachrichten von einer "Überraschung für die Ungläubigen"

Weil Safia S. in Chat-Nachrichten davon sprach, sie habe mit "Angestellten" der IS-Regierung in Verbindung gestanden, die sie aufgefordert hätten, zurück nach Deutschland zu gehen und eine "Überraschung für die Ungläubigen" zu machen, werten die Ermittlungsbehörden den Inhalt des Telefons heute als Indiz, dass der Angriff auf K. möglicherweise der erste vom IS in Auftrag gegebene Terroranschlag ist. Der Generalbundesanwalt hat das Verfahren übernommen.

Doch Dokumente, die der Süddeutschen Zeitung vorliegen, legen den Schluss nahe, dass die niedersächsischen Behörden schon viel früher von Safias Plänen hätten wissen können. Bereits eine Woche nach ihrer Rückkehr aus Istanbul (und etwa drei Wochen vor dem Angriff am Hauptbahnhof in Hannover) lagen den mit den Ermittlungen gegen Safia beauftragten Polizisten die entscheidenden Chat-Protokolle vor. Ihr Telefon war zügig ausgelesen worden, jedenfalls technisch. Inhaltlich ausgewertet wurden die arabisch-, deutsch- und englischsprachigen Chats nach Aktenlage jedoch erst Anfang März.

Dass sie die Nachrichten über eine mögliche "Märtyreroperation" auch noch ausgerechnet mit Hasan K. austauschte, gegen den im Zusammenhang mit der Absage des Fußball-Länderspiels im November 2015 ermittelt wird, fiel somit erst nach der Tat auf.

Die Jungen verhielten sich auffällig, waren aggressiv, äußerten sich radikal

In der niedersächsischen Landesregierung heißt es, die unterlassene Auswertung der Chats sei "unglücklich", man habe die zuständige Polizeidirektion in Hannover aufgefordert, den Fall noch einmal zu überprüfen und Lehren für die Zukunft zu ziehen. Allerdings habe man einfach nicht annehmen können, dass ein 15-jähriges Mädchen einen tödlichen Anschlag planen würde. Offiziell wollte sich das Innenministerium in Hannover nicht äußern.

Auch der Generalbundesanwalt will die Vorgänge, die einen Zeitraum vor seiner Übernahme des Verfahrens betreffen, nicht kommentieren. Im niedersächsischen Landtag beschäftigt sich ein Untersuchungsausschuss mit der Frage, ob die dortigen Behörden versagt haben. Für die Opposition scheint dies bereits festzustehen - die neuen Erkenntnisse im Fall Safia S. werden sie vermutlich in ihrem Urteil nur bestätigen.

Auch in Nordrhein-Westfalen hat sich Innenminister Ralf Jäger (SPD) der Frage stellen müssen, ob der Bombenanschlag auf den Essener Sikh-Tempel im April, bei dem drei Männer verletzt wurden, womöglich hätte verhindert werden können. Mittlerweile musste Jäger einräumen, dass alle im Zusammenhang mit dem Anschlag beschuldigten Personen "den Sicherheitsbehörden im Vorfeld der Tat bekannt waren".

Die fünf 16 bis 20 Jahre alten Männer aus Gelsenkirchen, Essen und Münster sitzen in Untersuchungshaft. Zu allen Beschuldigten lagen seit Langem Meldungen von Eltern oder Schulen vor: Die Jungen verhielten sich auffällig, waren aggressiv und äußerten sich radikal. Einer bespuckte in der Pause Mädchen, einer griff eine Lehrerin an und ein dritter prahlte auf dem Schulhof mit einem Handyvideo einer Explosion, welche die Ermittler im Nachhinein als "Probesprengung" werteten. Weil die Polizei Gelsenkirchen nach Meldung der Schulleitung lediglich Verhaltensregeln vereinbarte, musste die Behörde bereits einräumen, ihre Reaktion sei "nicht konsequent genug" gewesen.

Quasi unter Aufsicht offenbar immer weiter radikalisiert

Gegen mehrere der Beschuldigten wurde schon vor dem Anschlag wegen Einbruchs- oder Propaganda-Delikten ermittelt. Zwei der jungen Männer wurden sogar im Aussteigerprogramm "Wegweiser" des nordrhein-westfälischen Landesamts für Verfassungsschutz betreut - doch anstatt sich aus den islamistischen Zusammenhängen zu lösen, hatten sie sich quasi unter Aufsicht offenbar immer weiter radikalisiert. Die einzelnen Hinweise und Informationen über die mutmaßlichen Attentäter lagen bei unterschiedlichen Ermittlungsbehörden in Nordrhein-Westfalen vor. Zusammengeführt wurden sie nicht.

Anfang des Jahres gründeten die jungen Islamisten eine Whatsapp-Gruppe, fuhren nach Hamburg und Hannover und verkehrten in salafistischen Moscheen in Duisburg und Hildesheim. Bei ihren Treffen führten sie Protokoll - geradezu bürokratisch notierten die Jugendlichen ihre Pläne zu einer "Aktion zur Bekämpfung der Ungläubigen" und zum "Götzen beseitigen". Aufgaben wurden verteilt und per Unterschrift quittiert: Geldbeschaffung, "Lokalisation" und "Zusammenbau" - es waren wohl Sprengsätze gemeint.

Als die Mutter des Beschuldigten Tolga I., die diese Protokolle im Kinderzimmer ihres Sohnes fand, Ende März Fotos des Notizhefts an die Polizei schickte, stellte die Staatsanwaltschaft Duisburg keinen Durchsuchungsbeschluss aus. Aus den Notizen hätten sich keine Hinweise auf eine konkrete Anschlagsplanung ergeben, lediglich auf mögliche Eigentumsdelikte, heißt es in einer Stellungnahme der Polizei. Zwei Wochen nach der Meldung der Mutter explodiert der Sprengsatz vor dem Sikh-Tempel.

In Deutschland haben nun immer mehr Bundesländer entschieden, dass der Verfassungsschutz künftig die Daten von 14-Jährigen, statt wie bisher 16-Jährigen, speichern darf. Die Frage zu beantworten, nach wem man suchen muss, um tödliche Anschläge zu verhindern, ist durch die Vorfälle in Hannover und Essen noch einmal schwieriger geworden.

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