Inklusion:Nur Geduld

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Natürlich sollen Behinderte an der Gesellschaft teilhaben, natürlich sollen sie gemeinsam mit Nicht-Behinderten lernen. Die sogenannte Inklusion gehört inzwischen zum Selbstverständnis der Republik. Doch wie kann das Selbstverständliche tatsächlich funktionieren?

Von Johann Osel

Natürlich - dieses Wort fällt einem in der Debatte als Erstes ein. Natürlich soll Behinderten volle Teilhabe an der Gesellschaft, auch am Schulsystem ermöglicht werden. Natürlich hat sich Deutschland durch die UN-Behindertenkonvention zur Inklusion verpflichtet, also alle Schüler gemeinsam zu unterrichten. Natürlich sind die Förderschulen, trotz des Engagements der Lehrer, oft Sackgassen, viele Kinder schaffen nicht mal den Hauptschulabschluss. Natürlich hat jeder Mensch Talente: Sie wolle ihren Sohn, wie es die Mutter eines Jungen mit Down-Syndrom formuliert, "nie durch geringe Erwartungen zusätzlich behindern". Andererseits: Inklusion ergibt nur Sinn, wenn sie gut umgesetzt ist, wenn sie wirklich funktioniert. Also: bitte Geduld!

Nun ist ein neuer Report erschienen, die Bertelsmann-Stiftung stellt Fortschritte fest, jedes dritte Kind mit sonderpädagogischem Bedarf besucht eine reguläre Klasse. Es geschehe aber zu wenig, Inklusion sei vor allem an den Gymnasien oft ein "Fremdwort". Dass sich viele Politiker Zeit lassen, ist jedoch nachvollziehbar. Würde man jetzt alle Förderschulen dichtmachen - die Hoffnungen, die mit Inklusion verknüpft sind, würden sich nicht erfüllen. Im Gegenteil, die Idee geriete im Grundsatz in Gefahr. Inklusion ist eine gewaltige Schulreform; man sieht ja schon bei weitaus kleineren Vorhaben, dem achtjährigen Gymnasium zum Beispiel, dass die Nerven schnell blank liegen.

Wie kann Inklusion funktionieren? Unterricht, Ausstattung, Personal müssten auf die gemischte Schülerschaft, auf alle Geschwindigkeiten ausgerichtet sein. Da ist es mit Rollstuhlrampen oder Büchern in Blindenschrift nicht getan - Schüler mit Handicap bei Motorik und Sinnesorganen machen zwölf Prozent aller Förderdiagnosen aus. Häufig geht es um Lern- und Verhaltensstörungen, um geistig Behinderte: Kinder, die ihr eigenes Tempo beim Lernen, Verstehen und Üben haben. Besuchen sie Regelklassen, sind Teams nötig statt eines einzigen Lehrers, Sozialpädagogen, Lernbegleiter, Gruppenarbeit auf verschiedenen Niveaus. Um verbal bei der Inklusion zu bleiben: Unterricht "all inclusive". Also wie im Ferienclub ein Rundum-Angebot, in dem sich jeder ohne Hürden je nach Bedarf bedienen kann. Das Problem ist, dass Lehrer das im Studium - zumindest bis vor Kurzem - gar nicht lernen.

Hört man sich um an den Schulen, die weit sind mit Inklusion, wird oft erzählt, dass in Klassen neue Lernformen Einzug halten, bei denen der Einzelne zählt - wovon auch Leistungsstarke profitieren; dass der Umgang behutsamer wird. Man hört andernorts aber, dass in der Regelschule Behinderte wieder ausgegrenzt sind, nicht mit allen Rechnen üben, sondern abseits Tannenzapfen bemalen; man hört, dass Stunden im Chaos versinken, weil Kinder etwa Wutanfälle haben.

Es gibt schon jetzt Skepsis: Eltern sorgen sich, dass die Kinder beim gemeinsamen Lernen untergehen oder dass das Niveau sinkt. Beides kann erst recht der Fall sein, wenn man Schüler auf einen Bildungsweg zwingt, dem sie nicht gewachsen sind. Wer das Abitur nicht anstrebt - nicht anstreben kann -, wird sich am Gymnasium unwohl fühlen, ein Ausgeschlossen-Sein erleben. Das Gegenteil von Inklusion. Zudem: Ein helfendes, chancengerechtes System muss eben Hilfen und Chancen für alle bieten - aber sicher nicht jegliche Leistungsmaßstäbe abschaffen.

Nur durch Beispiele gelungener Inklusion wird es eine breite Akzeptanz geben. Es muss eine Reform in machbaren Schritten bleiben. Gemeinsame Klassen, die den Einzelnen ignorieren, nützen keinem; eine geduldige Inklusion aber allen.

© SZ vom 05.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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