Indien:"Unrecht muss ans Licht"

Menschenrechtsaktivist Henri Tiphagne

Er selber weiß nicht, zu welcher Kaste er gehört: Henri Tiphagne.

(Foto: Oliver Wolff/dpa)

Henri Tiphagne erhält für seinen Kampf gegen das Kastenwesen den Menschenrechtspreis der deutschen Sektion von Amnesty International.

Von Arne Perras, Singapur

Die Sache mit dem Brunnen ist schon lange her, Henri Tiphagne war damals noch Student, aber das Erlebnis hat sich eingegraben im Kopf. Der indische Anwalt sagt, dass das ein wichtiger Anstoß war für seine Arbeit, die nun in Berlin gewürdigt wird. Tiphagne erhält den Menschenrechtspreis der deutschen Sektion von Amnesty International. Und wer etwas erfahren möchte über das Leben des Mannes mit dem dicken Schnauzbart, hört nun also die Geschichte vom Brunnen.

Sie spielt im Süden Indiens, und Tiphagne muss ein wenig ausholen. Ende der 70er-Jahre fuhr er mit anderen Freiwilligen in ein Dorf, das vom Hochwasser überschwemmt worden war. Nach der Flut mussten die Brunnen gereinigt werden. Und als sie gerade loslegen wollten, kam der Dorfvorsteher und sagte: "Aber hier könnt ihr nicht anfangen." Sie sollten einen anderen Brunnen nehmen. Tiphagne verstand zuerst nicht, warum der Mann so insistierte. Doch dann dämmerte es ihm. Denn dort, wo sie gerade standen, schöpften die Dalits ihr Wasser. Einst hießen sie "die Unberührbaren". Die Dorfoberen wollten nicht, dass ein Brunnen der Dalits zuerst gesäubert wurde. Erst mal sollten die höheren Kasten ihr sauberes Wasser zurückbekommen.

Diskriminierung, Polizeiwillkür und Folter - das will er stoppen

"Wir haben dann doch den Brunnen der Dalits zuerst gereinigt", sagt Tiphagne. Und die Ungerechtigkeiten rund um das Kastenwesen haben ihn seither nicht mehr losgelassen. Er kämpft gegen die Diskriminierung der untersten Schichten. Wobei interessant ist, dass der 60-Jährige selbst gar nicht weiß, zu welcher Kaste er gehört. Das ist selten und kam so: Seine Mutter ist bei seiner Geburt gestorben, so wurde er als Säugling fortgegeben und landete schließlich bei einer französischen Ärztin, die ihn adoptierte. Sie behandelte Leprakranke. Der Junge bekam den Namen Henri. "Wo ich aufwuchs, konnte mir keiner sagen, zu welcher Kaste ich gehörte. Und ehrlich gesagt: Ich bin froh darüber."

So ist er der üblichen sozialen Sortierung entkommen. Doch vielleicht hatte ihn gerade das besonders sensibilisiert für das Unrecht, das andere, alleine wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer unteren Kaste, erlitten. Seine Mutter lebte nach dem Grundsatz, dass zuerst der Dienst am Menschen komme und danach alles andere. Tiphagne lernte früh, was soziales Engagement alles bewirken konnte. Er wollte anfangs Medizin studieren, doch einen Platz bekam er für Jura. In den Hörsälen war er selten zu finden, er lernte lieber aus Büchern und war meistens auf den Straßen unterwegs, dort, wo das Unrecht hautnah zu spüren war. Er erlebte, dass das Recht eben nicht bei allen ankommt, schon gar nicht bei jenen, die ganz unten leben. Tiphagne sah, dass jene, die Hilfe am dringendsten brauchten, sie am seltensten bekamen. Sie litten unter Diskriminierung, Polizeiwillkür, Folter. Und hatten keine Mittel, sich zu wehren.

Indien ist eine Demokratie, die viel gelobte Verfassung legte bereits 1950 fest, dass niemand wegen seiner Kaste diskriminiert werden dürfe. Doch der Wandel in den Köpfen ist mühsam. Tiphagne erkennt die Bemühungen des Staates durchaus an und beobachtet, dass viele Inder sich anstrengen, Kastengrenzen zu durchbrechen. Aber es bleibt noch viel zu tun. Tiphagne hat schon vor vielen Jahren die Organisation People's Watch gegründet. Sie recherchiert und dokumentiert die Missstände, sie versucht, Machtmissbrauch aufzudecken. Mit seinem Team hat er schon Tausende Opfer vor Gericht vertreten. "Das Unrecht muss ans Licht, sonst ändert sich nichts", sagt Tiphagne.

Dass es der Staat Aktivisten wie ihm nicht leicht macht, war schon unter den Gandhis zu beobachten, die Schwierigkeiten setzten sich mit der neuen Regierung von Narendra Modi fort. Tiphagne hat im Lauf der Jahrzehnte viele Schikanen erlebt, bezog Prügel, kam hinter Gitter. Aber immer fand er Wege weiterzumachen. An seiner Seite steht seine Frau Cyntia, gemeinsam haben sie zwei Töchter. Und die Jugend ist es denn auch, die ihn weiter motiviert. Seitdem sein Team auch in die Schulen geht, um Menschenrechte zu unterrichten, weiß er, mit wie viel Begeisterung Jugendliche diese Themen aufsaugen. Als er noch jung war, durfte man das Wort Menschenrechte gar nicht in den Mund nehmen, ohne sofort als Maoist zu gelten und Verfolgung zu riskieren.

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