Immunität:Warum sich das türkische Parlament selbst entmachtet

Parlament in Ankara

Ein großer Teil der Abgeordneten der HDP im türkischen Parlament muss nun fürchten, von der Staatsanwaltschaft juristisch verfolgt zu werden.

(Foto: dpa)
  • Das türkische Parlament hat einer umstrittenen Verfassungsänderung zugestimmt: Der Weg zur Strafverfolgung von Abgeordneten ist somit frei.
  • Kritikern gilt der Vorstoß als ein weiterer Schritt Erdoğans dahin, so viel Macht wie möglich im Amt des Präsidenten zu bündeln.
  • Aus Deutschland ertönt starke Kritik an der Aufhebung der Immunität von mehr als einem Viertel der türkischen Abgeordneten.

Von Markus Mayr

Das türkische Parlament hat die Immunität vor Strafverfolgung bei mehr als einem Viertel seiner Abgeordneten aufgehoben. 373 der 550 Abgeordneten stimmten am Freitagvormittag für diese vorübergehende Verfassungsänderung. Damit wurde die dafür nötige Zweidrittelmehrheit erreicht. Bei einer Probeabstimmung am Dienstagabend wurde diese noch knapp verfehlt. Die Regierungspartei AKP hatte den ungewöhnlichen Antrag eingebracht, der die Macht des Parlaments beschneidet. Als Drahtzieher der islamisch-konservativen Partei gilt Recep Tayyip Erdoğan, auch wenn er als Präsident kein Parteibuch mehr führen darf.

Die Verfassungsänderung ist äußerst umstritten. Sie löste im Vorfeld eine Schlägerei im Parlament aus. Kurz vor der Abstimmung kam es zu einem erneuten Eklat: Parlamentarier der größten Oppositionspartei CHP verließen unter Protest den Saal, wie der Sender CNN Türk berichtete. Sie skandierten dabei: "Die Türkei ist laizistisch und wird laizistisch bleiben." Das bezog sich auf eine Äußerung des türkischen Parlamentspräsidenten vor wenigen Wochen, in der er eine religiöse Verfassung für die Türkei forderte.

Endgültig beschlossen ist die Verfassungsänderung erst am Freitag, wenn das Parlament noch einmal über das Gesamtpaket an Änderungen abstimmt. Kritikern gilt sie als ein weiterer Schritt Erdoğans zur Einführung eines Präsidialsystems in der Türkei. Das Parlament entmachtete sich mit der Aufhebung der Immunität seiner Abgeordneten vorübergehend selbst. Weiter deuten Kritiker den Vorstoß als einen gewichtigen Schlag Erdoğans in seinem Kampf gegen die Kurden.

Was bedeutet die Verfassungsänderung für die Türkei? Die wichtigsten Fragen und Antworten im Überblick.

Wer ist von der Verfassungsänderung betroffen?

Alle Parlamentarier, die im Verdacht stehen, eine Straftat begangen zu haben. In Zahlen: 138 von 550. Am stärksten vor Strafverfolgung fürchten müssen sich nun allerdings Abgeordnete der prokurdischen Partei HDP. Sie trifft der Verlust der Immunität am meisten, gegen sie erhebt die Justiz die schwersten Vorwürfe. Sie werden vor allem beschuldigt, die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK zu unterstützen oder ihr anzugehören. Erdoğan hält die HDP für das Sprachrohr und den politischen Arm der in der Türkei, der EU und den USA als Terrororganisation eingestuften PKK. Der Staatschef ruft seit Wochen ausdrücklich dazu auf, die Immunität der HDP-Abgeordneten aufzuheben.

Die Verfassungsänderung betrifft der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu zufolge 50 der 59 HDP-Abgeordneten. Weiter betroffen sind 27 Parlamentarier der AKP, 51 Abgeordnete der CHP, neun der ultrarechten MHP sowie eine parteilose Abgeordnete.

Was hält Deutschland von der Aufhebung der Immunität? Und was könnte es für den EU-Türkei-Deal bedeuten?

Die SPD hat die Entscheidung des türkischen Parlaments, die Immunität von mehr als einem Viertel der Abgeordneten aufzuheben, als schweren Rückschlag für die Demokratie in dem Land kritisiert. "Der demokratische Pluralismus in der Türkei nimmt damit nachhaltigen Schaden. Es geht dabei ausschließlich um den Erhalt und Ausbau der Macht von Präsident Erdoğan und der AKP", sagte SPD-Generalsekretärin Katarina Barley.

Schon länger steht der immer stärker nach Macht strebende türkische Präsident Erdoğan in der Kritik. So warf der deutsche Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) Erdoğan "autokratische Ambitionen" vor. Mit der Verfassungsänderung setze sich "leider eine ganze Serie von Ereignissen fort, mit denen sich die Türkei immer weiter von unseren Ansprüchen an eine Demokratie entfernt", sagte Lammert der SZ. Auch Bundestagsvizepräsident Johannes Singhammer (CSU) kommentierte die Änderung: Spätestens jetzt dürfe die Europäische Union keine Visafreiheit für Türken mehr beschließen, sagte er. Die Visafreiheit ist ein zentraler Bestandteil der Flüchtlingsvereinbarung zwischen der Türkei und der EU.

Was verspricht sich Erdoğan von der Verfassungsänderung?

Was bedeutet der Verlust der Immunität für die Abgeordneten?

Die Staatsanwaltschaft kann nun aller Voraussicht nach die Ermittlungen gegen die einzelnen Abgeordneten aufnehmen. Die HDP befürchtet, dass Abgeordnete aus ihren Reihen in U-Haft genommen werden. Ihr Mandat verlieren Parlamentarier allerdings erst dann, wenn sie in letzter Instanz verurteilt werden. Weil die frei werdenden Sitze dem türkischen System nach aber nicht von Nachrückern aus der eigenen Partei besetzt werden dürfen, verliert die Fraktion den Sitz. Würden fünf Prozent der Parlamentssitze frei - wenn also 28 Abgeordnete ihr Mandat verlieren -, muss verfassungsgemäß in den Wahlbezirken nachgewählt werden.

Was bringt die Verfassungsänderung Erdoğan?

Der Staatschef steht mit seiner AKP im Verdacht, bei solchen Nachwahlen die zur Referendums-Hürde fehlenden 13 Sitze dazugewinnen zu wollen. Mit 60 Prozent der Sitze im Parlament (330 Mandate) könnte die AKP das von Erdoğan angestrebte Referendum für ein Präsidialsystem in die Wege leiten. Dem Verdacht trat die AKP vor der Abstimmung mit dem Verweis entgegen, in Kurdengebieten auch bei Nachwahlen keine Chance auf Stimmengewinn zu haben. Die HDP dürfte nun aber in jedem Fall geschwächt werden: Ihr Vorsitzender Selahattin Demirtaş ist der wohl charismatischste Gegner Erdoğans und verliert nun ebenfalls seine Immunität.

Warum ist gerade die prokurdische HDP dem Präsidenten ein Dorn im Auge?

Die HDP gilt Erdoğan als gemäßigter Flügel der kurdischen PKK. Mit Vorstößen wie der geplanten Verfassungsänderung versucht er, die HDP zu diffamieren und zu entmachten. Seit vergangenem Sommer ist der Konflikt mit den Kurden in der Türkei wiederaufgeflammt. Schon im Parlamentswahlkampf im ersten Halbjahr vergangenen Jahres zeichnete sich ein tiefer Graben zwischen Erdoğan und der prokurdischen HDP ab, als diese klarmachte, dass ein Präsidialsystem mit ihr nicht zu machen sei.

Am 20. Juli 2015 erhitzte ein Anschlag in der türkischen Stadt Suruç nahe der syrischen Grenze mit mehr als 30 Toten die alte Feindschaft. Das Attentat wird zwar dem sogenannten Islamischen Staat (IS) zugeschrieben. Doch die PKK warf der türkischen Regierung vor, den IS im Kampf gegen die syrischen Kurden zu unterstützen, und verübte im Anschluss mehrere, teils tödliche Attentate auf türkische Polizisten. Daraufhin griff das türkische Militär nicht nur zum ersten Mal offen den IS an, sondern ging auch gegen Stellungen der PKK im Nordirak vor.

Der Waffenstillstand zwischen der PKK und der Türkei, der seit 2013 mal mehr und mal weniger gegolten hatte, ist seitdem passé. Immer blutiger wurde der Konflikt. Im Südosten der Türkei liefern sich kurdische Kämpfer und türkisches Militär immer wieder heftige Gefechte, Bomben detonieren in türkischen Großstädten. Wie etwa Anfang Oktober, als ein Sprengsatz bei einer Friedensdemonstration in Ankara in die Luft ging. An der Demonstration nahmen viele HDP-Anhänger teil.

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