Idomeni:Auszug der Zermürbten

Das Lager an der griechischen Grenze ist das Sinnbild für Chaos und Flüchtlingselend in der EU. Am ersten Tag bleibt die Räumung friedlich. Doch Tausende verstecken sich offenbar noch in der Umgebung.

Von Mike Szymanski

Jetzt, da die Flüchtlinge gehen müssen, fragt man sich umso mehr: Was hat sie hier überhaupt so lange gehalten? Warum nur dieser Ort? Hoffnung muss ein wirklich starkes Gefühl sein. Die Menschen haben ausgeharrt an Schienen, die für sie nirgendwo mehr hinführten. Vor riesigen Toren, die sich für sie nicht mehr öffneten. Gegenüber von Uniformierten, die wenig Mitleid hatten, dafür aber manchmal Tränengas. Und einfach zu warten, das hat es ja auch nicht besser gemacht. Mal prasselte der Regen nieder und weichte die Erde zwischen ihren Zelten auf. Mal brannte die Sonne vom Himmel. So vergingen Tage. Wochen. Monate. Und immer wieder mussten sie anstehen - für alles. Essen, Trinken, Medizin.

Die Tage von Idomeni sind jetzt gezählt. Ein trauriger Zustand endet.

Am Dienstagmorgen gegen 6.30 Uhr hat die griechische Polizei mit der Räumung des wilden Camps an der Grenze zu Mazedonien begonnen. Wild ist es auch deshalb, weil der griechische Staat zu keinem Zeitpunkt wirklich willens, aber auch nicht in der Lage war, für einigermaßen erträgliche Verhältnisse zu sorgen.

Lange war der Staat gar nicht da. Jetzt hat er 1400 Polizisten in Mannschaftsbussen geschickt und Hubschrauber. Sie kreisen über dem Gelände. Giorgos Kyritsis, Chef des Krisenstabes, sagt, man werde die Flüchtlinge nicht mit Gewalt von hier wegbringen. Das klingt etwas zynisch, denn die Politik hatte immer drauf gesetzt, dass allein die Umstände die Menschen mürbe machen würden. Haben sie aber nicht. Jetzt sind die Polizisten eben dabei behilflich, Habseligkeiten in den Bäuchen der Reisebusse zu verstauen. Verfolgen kann man das im Fernsehen, dem griechischen Staatsfernsehen ist es erlaubt, die Räumung zu filmen. Viele andere Journalisten dagegen müssen draußen bleiben. Am Mittag dringt jedenfalls so viel durch: Es bleibt ruhig. Keine Probleme.

Im nahegelegenen Dorf stehen 13 Polizeieinheiten bereit, falls die Lage doch noch eskalieren sollte. Die Räumung soll noch einige Tage dauern. Wer weiß, was noch passiert. Einige Flüchtlinge habe sich in der Umgebung versteckt. Sie haben noch nicht kapituliert.

Der griechische Staat hat viele Wochen gebraucht, um Unterkünfte zu organisieren

Andere gehen. Ein Bus nach dem anderen verlässt das Sperrgebiet, allein am Vormittag sind es neun. Ein paar Hundert von etwa 8500 Flüchtlingen sind auf den Weg nach Thessaloniki und in umliegende Unterkünfte, für die das Land wieder viele Wochen brauchte, um sie zu errichten oder herzurichten. Fast eine Autostunde entfernt, in Sindos, wird jetzt eine ehemalige Fabrik zum neuen Übergangswohnheim. Andernorts sind es alte Kasernen.

Christos Gountenoudis ist Bürgermeister der Gemeinde Peonia, zu der auch Idomeni gehört. Bis vor ein paar Monaten hatte sich fast niemand für das Dorf mit 200 Einwohner interessiert. Es gibt einen kleinen Bahnhof. Der Güterverkehr von und nach Griechenland rattert über die Strecke, wenn nicht gerade Flüchtlinge ihre Zelte dazwischen aufgestellt haben.

Als die Flüchtlingskrise im vergangenen Jahr begann, wurde der Grenzübergang zum Startpunkt der Balkanroute. Monatelang war Griechenland ein Transitland für die vielen Flüchtlinge. Die Verzweiflung trieb sie aus den Kriegsgebieten übers Mittelmeer nach Griechenland.

In den Erstaufnahmelagern auf den Ferieninseln der Ägäis waren die Behörden so freundlich, auf Karten die schnellsten Wege zur mazedonischen Grenze zu zeigen. Über Idomeni ging es dann weiter in den Norden. Den griechischen Behörden war es nur recht, dass so gut wie niemand Asyl in diesem von der Schuldenkrise geplagten Land beantragen wollte. Die Flüchtlinge waren eben auf der Durchreise.

"Tausende Menschen kommen hier an, sie schlafen im Regen und in der Kälte in Zelten", hatte Gountenoudis im November berichtet. Da ahnte er noch nicht, was noch alles auf ihn zukommen würde.

"Wer garantiert, dass die Flüchtlinge nicht bald zurücklaufen?"

Im Februar begann Mazedonien, die Grenze zu schließen. Und Idomeni, jetzt plötzliche eine Sackgasse, wurde zum Symbol für das Versagen Europas, einen gemeinsamen Weg aus der Flüchtlingskrise zu finden. Es dauerte nicht lange, bis fast 15 000 Flüchtlinge und Migranten an der Grenze feststeckten. Europa hatte sich verbarrikadiert. Beim Versuch, über einen Fluss nach Mazedonien zu gelangen, kamen drei Afghanen ums Leben.

Der ehemalige Bundesarbeitsminister Norbert Blüm schlief eine Nacht in einem Flüchtlingszelt in Idomeni. "Was ist denn das für ein Europa?", fragte er. Der chinesische Aktionskünstler Ai Weiwei stellte einen weißen Flügel im Schlamm auf, damit eine Syrerin Klavier spielen konnte. Kriegserfahrene Fotografen reisten an, um in Idomeni das Elend zu fotografieren. Durch nichts davon ist Idomeni erträglicher geworden.

Was bleibt nun von Idomeni? Das weiß Christos Gountenoudis am Dienstag noch nicht zu beantworten. "Schauen wir mal!"

Erledigt habe sich die Krise für Griechenland jedenfalls noch lange nicht. "Sie ist ein enormes Problem für uns", sagt er. Mehr als 50 000 Flüchtlinge halten sich jetzt in Griechenland auf. Gemessen an den Hunderttausenden, die in Deutschland Zuflucht gesucht haben, erscheint die Zahl gering. Aber Griechenland war andererseits bis zur Schließung der Balkanroute nicht darauf vorbereitet, dass die Flüchtlinge im Land bleiben müssen. An der Grenze zu Mazedonien ist es mit der Räumung des Lagers in Idomeni auch nicht getan. 3500 Migranten würden sich in der näheren Umgebung aufhalten, in umliegenden Dörfern, am alten Zollamt, einer Tankstelle. "Eine Schande", sagt er. Not überall.

Im provisorischen Lager Nea Kavala würden weitere 4000 Flüchtlinge leben. "Was passiert mit denen?", fragt der Bürgermeister. Und vor allem: "Wer garantiert, dass die Flüchtlinge nicht bald zurücklaufen?"

Die Hilfsorganisation Medico International behauptet sogar, in den vorgesehenen griechischen Ausweichlagern sei die Situation teilweise noch schlechter als in Idomeni. Wer Idomeni gesehen hat, kann sich das eigentlich kaum vorstellen. Andererseits ist in Griechenland alles möglich. So bezeichnete ein Athener Vorort-Bürgermeister die Flüchtlingsunterkunft bei sich am Dienstag als Ghetto.

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