Hundert Tage Gauck als Bundespräsident:Nur nicht abheben

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Wie einem Popstar jubeln Kinder dem Präsidenten zu, zwei Drittel der Deutschen finden ihn sympathisch. Joachim Gauck ist aber auch ein Dickschädel. Einer, der meist das Richtige tut. Seine ersten hundert Tage im Amt haben geglänzt - jetzt muss er aufpassen, dass er am Boden bleibt.

Constanze von Bullion, Berlin

Er segelt da einfach so durch, könnte man meinen, passiert mühelos all die Klippen des Amtes, schlingert hin und wieder, fängt sich, um sofort das nächste Gestade anzusteuern. Nur manchmal, da lässt sein rastloser Puls den Präsidenten nicht so genau auf den inneren Kompass achten. Dann werden sie unruhig in der Mannschaft.

Unterwegs für Deutschland: Nach 100 Tagen im Amt muss Bundespräsident Gauck darauf achten, am Boden zu bleiben. (Foto: dapd)

Anfang der Woche ist das zum Beispiel passiert, als der Himmel sein schönstes Licht und Sommerhitze über Schloss Bellevue in Berlin ausgießt. Joachim Gauck hat zum Demokratiefest eingeladen, im Garten stehen Schüler, die sich fürs Gemeinwohl engagieren. Der Präsident tritt also ans Mikrofon, und wenn stimmt, was Augenzeugen berichten, zerrt er sich erst mal mit einem "Puh!" Krawatte und Jackett vom Leib. Dafür gibt es gleich Szenenapplaus, sie mögen ihn, die jungen Leute, und weil er sie auch mag, tut Gauck, was er am besten kann: geht runter auf Augenhöhe mit dem Volk, schwatzt hier bisschen, umarmt da für ein Foto, füttert dort schnell noch eine Schülerin.

Klick, macht es. Mist, heißt es im Präsidialamt. In der Zeitung wird am nächsten Tag ein Foto zu sehen sein, auf dem ein 72 Jahre alter Mann einem sehr jungen und etwas verlegenen Mädchen einen Fruchtspieß in den Mund schiebt. Darf der das? Soll der das? In einer Woche, in der seine Lebensgefährtin Daniela Schadt alle Termine absagt, weil ihr Vater gestorben ist?

Natürlich nicht, sagt einer aus Gaucks Tross, der selbst Töchter hat und solche Bilder nicht in der Zeitung sehen will. Er kennt Gauck gut genug, um zu wissen, dass der sein Präsidententum gern mal vergisst und in Stimmungen, den eigenen, unbekümmert badet. Meistens kann er sich da aufs Bauchgefühl verlassen, das seine größte Stärke ist, aber auch sein ärgster Feind: diese fast schlafwandlerische Gewissheit. Gelegentlich müssen sie den Wandler dann halt wecken.

Hundert Tage ist Joachim Gauck nächste Woche im Amt, und es ist nicht übertrieben zu sagen, dass sie geglänzt haben, die Tage, jedenfalls die meisten. Eine Umfrage hat dem Bundespräsidenten eben hohe Sympathiewerte bescheinigt, 78 von 100 Menschen finden ihn demnach gut, sieben nicht so, nur zwei sind gar nicht zufrieden. Wie kann das eigentlich sein bei einem, von dem es eben noch es hieß, viele Ostdeutsche sähen ihn skeptisch, viele aus Zuwandererfamilien, auch Junge, weil er ihnen zu konservativ sei, zu alt, zu starrköpfig?

Es stimmt ja auch, Gauck ist ein alter Dickschädel, und wer ihn durch sein erstes Vierteljahr begleitet, erlebt einen, der sich nicht abschleifen lassen mag, er selbst bleiben will irgendwie, auch im diplomatischen Korsett. Und der sich am Anfang noch etwas ungläubig dabei zusieht, wie er vom Bücherschreiber zum Popstar mutiert.

Beim Antrittsbesuch in Baden-Württemberg geht das los, da besucht Gauck die Solarfabrik Ritter in Dettenhausen, kurbelt mit der Schutzbrille auf der Nase sichtlich ratlos an irgendeinem Gerät, Daniela Schadt inspiziert Schraubenkisten. "Ich sorge für die Umwelt!" ruft Gauck vergnügt, als er gefragt wird, was er eigentlich tut, und dass er sich manchmal "kneifen" muss, dass er jetzt so eine "Großaufgabe" verrichtet im Land.

Schon glucksen die Mitarbeiter der Firma, und wenig später wird das Publikum johlen. In Tübingen warten Hunderte Kinder vor einer Schule auf den Präsidenten, von dem sie schon so viel gehört haben. "Seine Lieblingsfarbe ist Grün", sagt Alana. "Der ist in Ostdeutschland geboren", sagt Zelika. "Wo ist Ostdeutschland?", will Alana wissen, und Eva fragt, was ein Politiker ist. "Der sitzt da, wo die Merkel sitzt", sagt Moritz, und dass dieser Präsident "sehr alt" und "gar nicht gewaschen ist". Stand in der Zeitung.

Weiter kommt das Fachgespräch leider nicht, weil sich ein Kreischen erhebt, als sei Justin Bieber höchstpersönlich eingeschwebt. Gauck ist da, die Kinder greifen nach ihm, wollen Autogramme, näher ran, sie schreien. "Ich glaub', jetzt musst du singen", raunt Daniela Schadt Gauck noch zu, als er sich zur Bühne durchkämpft. Er singt aber nicht, er schluckt, kämpft mal wieder. "So viele Herzen", wird er später sagen.

Seit hundert Tagen im Amt: Bundespräsident Joachim Gauck. (Foto: dapd)

So etwas treibt ihn um, und selbst Kinder spüren, dass diese Wärme keine künstliche ist. Wie er sie pflegt da drinnen, rauslässt, wenn ihm danach ist, das gehört zu Gaucks Betriebsgeheimnissen. Es gibt aber auch Momente, in denen er sich nach innerer Abkühlung sehnt.

Auf dem Weg in die Niederlande ist das der Fall, da sitzt Gauck vorn in diesem enormen Präsidentenflugzeug, mit Daniela Schadt, aber allein irgendwie mit sich und der Verantwortung. Wie es ihm geht, soll er wenig später sagen, im hinteren Teil des Flugzeugs, wo die Presse sitzt. "Ach", sagt er. "Da fürchtet man sich, dass einen das übermannt."

Wenn Gauck vor etwas Angst hat, dann vor dem eigenen Herzschlag. Und davor, dass er selbst anfängt zu glauben, der Größte zu sein, bevor er irgendwas erreicht hat. Der Barack-Obama-Effekt ist das, und wie er funktioniert, wird Gauck in der gotischen Kirche von Breda vorgeführt. Dort sitzen unter alten Fresken niederländische Honoratioren, Naziverfolgte und schütter gewordene Soldaten mit abgegriffenem Barett. Das Land feiert seine Befreiung von der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg, und als erster Deutscher darf Gauck reden.

Ein langer Weg, den er gehen musste

Er tut das sichtlich aufgeregt, liest erst viel zu schnell den Redetext ab, erzählt dann vom langen Weg, den er hat gehen müssen, um zu begreifen, dass ein Widerstandskämpfer kein Vaterlandsverräter sein muss. Als er fertig ist, erheben die Menschen sich, und es läuft ein Film über eine Leinwand, der manche im Publikum doch etwas verblüfft. Da sieht man Mahatma Gandhi spinnen und Martin Luther King die Massen anfeuern, Nelson Mandela, Michael Gorbatschow, und dazwischen Gauck und seine Freiheit.

Dankenswerterweise gibt es Menschen, die Gauck in die Wirklichkeit zurückholen. Die vorwitzige Frau Schadt gehört zu ihnen, am Nachmittag sitzt sie neben Gauck auf einem quittegelben Polsterstuhl in der Residenz des deutschen Botschafters in Den Haag. Sie lächelt, er schwärmt über die Begegnungen hier, auch mit "Sehnsuchtsbildern" seiner Jugend.

"Sie müssen sich den 13-jährigen Gauck vorstellen, wie er abends im Bett seinen ,Egmont' las." Egmont, der niederländische Graf, der gegen die spanischen Besatzer aufmuckte, "ich habe überhaupt viel Schiller gelesen." Jetzt räuspert sich Daniela Schadt, "Egmont ist aber von Goethe." Gauck verstummt, wenn auch nicht für lange. Goethe und Schiller, jaja, sagt er, es geht halt um "Freiheitsbilder" und so.

Sie versucht da jetzt ein etwas anderes Damenprogramm einzuführen, die "Dani", wie Gauck sie nennt, die immerfort versichert, dass es ihr gar nichts ausmacht, statt Ressortleiterin einer Zeitung Begleiterin zu sein, Beobachtete statt Beobachterin. Manchmal scheint sie ihre neue Aufgabe als eine Art Endlosrecherche zu betrachten, und manchmal schiebt die Journalistin in ihr die First Lady kurzentschlossen beiseite.

Empfang im Evangelischen Stift Tübingen, Gauck steht bei den Würdenträgern mitten im Saal, Schadt in der Ecke, umringt von Frauen. Sie lauschen lange, wie sie auf George W. Bush schimpft, in atemlosem Lauf von Irak nach Afghanistan jagt und nach Somalia, wo Piraten zu bekämpfen sind. "Schon", sagt irgendwann eine ältere Dame. "Aber i wollt' nur 'e Autogramm." Daniela Schadt lacht jetzt und unterschreibt. Dann holt man sie. Denn er will los.

Wie bleiben zwei wie die Gaucks sie selbst und kommen unfallfrei übers diplomatische Parkett? Indem sie die Kunst des Weglassens üben. Gauck lässt das Präsidententreffen in der Ukraine weg, wo die kranke Julia Timoschenko eingesperrt ist. Also entfällt das ganze Treffen, für Schlachtenbummler Gauck aber auch der Besuch der Fußball-Europameisterschaft. Dann kommt Wladimir Putin nach Berlin, über den Gauck mal gesagt hat, er wisse nicht, ob er bei der Begegnung "freundlich gucken" könnte. Er lässt das Gucken also eher weg auf dem roten Teppich, ein Gegenbesuch in Moskau bleibt ihm erspart, Terminprobleme. Aber reicht das?

Viel schwerer als das Weglassen ist ja das angemessene Benennen von Konflikten, weshalb Gauck gern mal ein bisschen experimentiert. Mal kritisiert er die Solarzulage oder provoziert Pazifisten mit seinem Lob für die "Hingabe" deutscher Soldaten im Ausland. Ein nimmermüder Geist eilt da von einer Großbaustelle zur nächsten, wo es nichts zu geben scheint, wozu er keine Botschaft hat. So aus dem Bauch raus. Mit Schlafwandlergewissheit. Und manchmal so, dass ihn dann jemand wachrütteln muss.

Als Deutschland über die Euro-Rettung streitet, erzählt Gauck in Brüssel unbekümmert, er sei optimistisch, dass Karlsruhe mögliche Klagen gegen den Rettungsschirm abschmettert. Ein Präsident gibt Verfassungsrichtern die Richtung vor? Man ist nicht amüsiert im Amt. Dann wackelt Gauck in Jerusalem, wo er "enorme Schwierigkeiten" für Angela Merkel kommen sieht, wenn Deutschland - Stichwort Staatsräson - Israel bedingungslos Gefolgschaft leistet, auch gegen Iran. Hoppla, da traut sich einer was - aber nicht lange. Gauck rudert zurück, will über Israel nie etwas anderes gesagt haben als seine Kanzlerin. So?

Wer Gauck in solchen Stunden erlebt, sieht einen, der dünnhäutig und anfechtbar wirkt, niedergeschlagener auch, als ein Staatsmann sich sonst zeigt. Er will nicht als Mister Weißschon dastehen und vermeiden, dass seine Präsidentschaft in eine stille, aber beharrliche Rivalität zur Merkels Kanzlerschaft gerät. Einerseits. Andererseits ist da dieser Stachel, der ihn immer genau das sagen lässt, was sein Publikum nicht hören will.

Gehört der Islam zu Deutschland?

Paulskirche in Frankfurt am Main, ein helles Rundhaus, hier warten Stipendiaten der Start-Stiftung, sie alle stammen aus Migrantenfamilien. Alaa Baazaoui aus Troisdorf sitzt hier, die mit ihren Spitzennoten in die Wirtschaft will, aber Chemie studieren wird, weil sie da auch mit dem Kopftuch auf eine Chance hofft, "da muss man halt noch mehr Gas geben als andere." Alaas Mutter hat in Tunesien Theologie studiert, Deutschland hatte keine Verwendung für sie. Fragt man Alaa nach ihrem Präsidenten, spricht sie von Christian Wulff. "Der hat ja gesagt, der Islam gehört zu Deutschland. Gauck hat das ein bisschen runtergeschraubt. Das finde ich schlecht."

Es steht neben Ehrfurcht also auch Skepsis im Raum, als Joachim Gauck die Bühne betritt und das "große Wir" beschwört, das "Haus aller Deutschen", in dem alle Platz finden, die sich zum Rechtsstaat bekennen. Gauck übt hier die Willkommenskultur, wenn auch mit spürbarer innerer Distanz. "Wir glauben an euch!", ruft er den Stipendiaten zu, den Erfolgreichen, die aufgestiegen sind aus ihrer Welt und ihre demokratische Überzeugung in Familien und Vereine "hinein"-tragen sollen. "Denn Parallelgesellschaften wollen wir nicht. Und schon gar nicht können wir Gegenkulturen akzeptieren, die sich gegen unsere freiheitliche Grundordnung richten."

Ihr seid die Guten, aber eure Familien und Verbände - na ja. Das ist die Botschaft, und sie wird hier sehr wohl verstanden. "Das finde ich überflüssig, jeder Bürger muss auf der Basis des Grundgesetzes agieren", wird Alaa Baazaoui später sagen. Immerhin, Gauck sei ja besser als befürchtet. "Ich denke, wenn er so weitermacht, kann er schon ein guter Bundespräsident werden."

Joachim Gauck dürfte das ähnlich sehen, aber genau ist das nicht in Erfahrung zu bringen. Er sitzt vor der Bühne, schlägt die Hände zusammen und wippt mit bei wilden Rap-Gesängen. "Warum bin ich anders als Nachbars Anne?", singt eine junge Frau mit schwarzer Haut, da muss Gauck sich irgendetwas aus den Augenwinkeln wischen. Es glitzert da schon wieder so verdächtig.

© SZ vom 23.06.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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