Honorarreform:Das kranke System

Die Ärzte fürchten um ihre Existenz, die Patienten sind genervt. Denn im Gesundheitssystem kommt das Geld nicht da an, wo es gebraucht wird.

Werner Bartens

Alle sind wütend: Ärzte, die um die Existenz ihrer Praxis fürchten. Patienten, die beim Arzt schnell abgefertigt werden. Einige Patienten haben sogar Vorkasse leisten müssen und sind weggeschickt worden, wenn sie nicht zahlen wollten. Als gelungen kann man die Honorarreform für Ärzte wirklich nicht bezeichnen.

Honorarreform: Es krankt am System - und daher auch in vielen Krankenhäusern und Arztpraxen.

Es krankt am System - und daher auch in vielen Krankenhäusern und Arztpraxen.

(Foto: Foto: AP)

Trotzdem sprechen viele Gesundheitspolitiker nur davon, dass sie Details der Reform "nachjustieren" müssten. Wer meint, mit ein paar Verbesserungen für einzelne Facharztgruppen auszukommen, liegt jedoch daneben. Der Fehler liegt im System.

Bürokratische Ungetüme

Im Gesundheitswesen soll es in erster Linie um die Patienten gehen. Hinter beschönigenden Begriffen wie Gesundheitsreform oder Gesundheitsfonds verbirgt sich hingegen regelmäßig ein bürokratisches Ungetüm, das die Bezahlung der Ärzte und die Verteilung der Kassenbeiträge verkompliziert, aber kaum die Patienten im Blick hat. Ein Konzept, das sinnvolle Medizin fördert, ist nicht zu erkennen. Die aktuelle Honorarreform bietet den Ärzten erst recht keine Anreize für eine Heilkunde, die den Kranken zugutekommt.

Wird etwa eine Kassenpatientin mit Brustkrebs ambulant beim Gynäkologen behandelt, muss der Frauenarzt viel Idealismus und wenig betriebswirtschaftliches Kalkül mitbringen, wenn er gute Medizin betreiben will. Zur Betreuung gehört es, Ängste und Erwartungen zu besprechen, die Abfolge der Chemotherapie zu erläutern und Perspektiven für den mittlerweile oft günstigen Krankheitsverlauf zu eröffnen. Hinzu kommt die Begleitung während der Behandlung. Pro Quartal bekommt ein Frauenarzt - je nach Bundesland - pauschal zwischen 15 und 35 Euro dafür. Dass sie für diese zeitintensive und menschlich anspruchsvolle Tätigkeit nicht besser bezahlt werden als eine Tankstelle für einen Reifenwechsel, verbittert die Ärzte zu Recht.

Die Patienten haben unter dem Honorarsystem ebenfalls zu leiden. Wenn ein Mensch mit Schwindel zum Arzt kommt, müssten Herz, Hirn, Ohren und Psyche angeschaut werden. Das ist aufwendig. Der Hausarzt begnügt sich womöglich mit einem EKG, der Neurologe mit den Hirnströmen, das irritierte Seelenleben - die häufigste Ursache für Schwindel - kommt in der Regel zu kurz. Der Patient wird von Arzt zu Arzt geschickt, weil keiner die umfangreiche Diagnostik oder ausführliche Gespräche für eine Pauschale von 30 oder 40 Euro auf sich nehmen will. Mancherorts werden Patienten mit banalen Beschwerden schon ins Krankenhaus geschickt. Denn attraktiv für Ärzte sind nur die gesunden Patienten mit ein paar Zipperlein. Die kranken Patienten dagegen werden zum finanziellen Risiko. Die Pauschale deckt nämlich nur eine Behandlung ab. Wer mehrmals kommt, den muss der Arzt zum Nulltarif behandeln.

Privatpatienten bevorzugt

Das gegenwärtige System folgt einer blinden Fortschrittsrhetorik. Medizin ist aber kein Wirtschaftszweig wie jeder andere, in dem mehr Mittel auch mehr Erfolg bringen. Mehr Medizin macht nicht zwangläufig gesünder. Gesundheit ist vielmehr ein Zustand der Selbstvergessenheit, ein "Schweigen der Organe", das sich nicht immer auf Rezept herstellen lässt. Dennoch verfahren viele Ärzte nach dem zynischen Motto: Es gibt keine Gesunden - nur Menschen, die noch nicht ausreichend untersucht worden sind.

Entsprechende Untersuchungen machen Ärzte vor allem, wenn sie sich separat abrechnen lassen - oder bei Privatpatienten. Gigantische Summen werden so für unnötige Diagnostik und Therapie verschwendet, dabei leiden etwa 40 Prozent der Patienten in Arztpraxen unter psychosomatisch überlagerten Beschwerden, die keiner Labor- und Gerätediagnostik, sondern einer geschulten Gesprächsbegleitung bedürfen.

Dennoch bestellen Ärzte Patienten nach überstandener Krankheit zu oft zu unnötigen Nachkontrollen ein. Krebsmediziner sprechen immer häufiger von Überdiagnose und Übertherapie, da auch Tumore entdeckt und behandelt werden, die nie Beschwerden verursacht hätten. In Fachzeitschriften wird bereits diskutiert, wie schädlich zu viel Medizin ist. Dabei besteht eine ärztliche Kernkompetenz darin, unnötige Diagnostik zu unterlassen und stattdessen die Ressourcen der Patienten zu aktivieren.

Gesundheit ist teuer

Kein Land steckt - neben der Schweiz und den USA - so viel Geld ins Gesundheitswesen wie Deutschland. Von dem Geld kommt jedoch zu wenig dort an, wo es gebraucht wird. Die Kassenärztlichen Vereinigungen (KV), die das Honorar der Ärzte berechnen und verteilen, sind bürokratisch so aufgebläht, dass viele Ärzte mehr Zeit mit der Abrechnung verbringen als mit Patienten. Die KV abzuschaffen, ist derzeit populär. Allerdings muss dann ein System folgen, das die Medizin nicht dem freien Spiel des Marktes opfert.

Eine Option wäre das Modell Norwegen: Dort bekommen Ärzte für jeden Patienten, der sich in ihre Liste einschreibt, eine jährliche Pauschale - egal ob er gar nicht, einmal oder zehnmal kommt. In der Lebenserwartung und anderen Kriterien für gute Gesundheit steht Norwegen besser da als Deutschland. Vielleicht auch deshalb, weil Weniger oft Mehr bringt: Norweger gehen im Durchschnitt dreimal im Jahr zum Arzt, Deutsche hingen 16-mal.

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