Judenverfolgung in Nazi-Deutschland:Die Ahnungslosen von Évian

Deutsche jüdische Kinder nach ihrer Ankunft in Großbritannien, 1938

Davongekommen: Jüdische Jugendliche aus Hamburg und Berlin erreichen 1938 Großbritannien.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Bei einem Treffen 1938 weigerte sich die internationale Staatengemeinschaft, die von Hitler verfolgten deutschen Juden aufzunehmen. Historiker monieren, dass Politiker daraus zu wenig gelernt haben.

Robert Probst

Die Teilnehmer der Konferenz im noblen französischen Badeort Évian-les-Bains hielten sich vornehm zurück. Im Juli 1938 entschied am Genfer See die internationale Staatengemeinschaft über das Schicksal Tausender Juden, die aus Nazi-Deutschland fliehen wollten. Doch in die inneren Angelegenheiten des NS-Staates wollte sich keiner gern einmischen.

Die Konferenz von Évian gilt als einer der beschämendsten Höhepunkte der Appeasementpolitik gegenüber Adolf Hitler. Doch eine weitere Wahrheit dieser Tagung im Luxushotel war auch: Die Emigrationswilligen waren nirgends erwünscht. Aber nur der Vertreter Australiens sprach Klartext: "Da wir kein wirkliches Rassenproblem haben, verspüren wir auch keine Neigung, durch eine ausländische Masseneinwanderung eines zu importieren."

Nach dem "Anschluss" Österreichs im März 1938 und den damit verbundenen antisemitischen Ausschreitungen sowie dem heraufziehenden NS-Terror hatte US-Präsident Franklin D. Roosevelt eine internationale Tagung angeregt, um Möglichkeiten zur Hilfe für jüdische Emigranten auszuloten. Vom 6. bis 15. Juli berieten die Diplomaten aus 32 Ländern und Vertreter Dutzender jüdischer Hilfsorganisationen - und beschlossen letztlich die Gründung eines zwischenstaatlichen Flüchtlingskomitees.

Doch niemand lockerte die Aufnahmebedingungen, keiner war bereit, seine Einwandererquote zu erhöhen. Zum 70.Jahrestag hat nun das Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin gemeinsam mit Pro Asyl und dem Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe im Deutschen Bundestag eine Tagung zum Thema "Festung Europa" veranstaltet. Der Historiker und Leiter des Zentrums, Wolfgang Benz, nennt die Konferenz von Évian "eine historische Schande für die zivilisierte Welt".

Bald nach der "Machtergreifung" 1933 hatte der NS-Staat mit der Diskriminierung der jüdischen Mitbürger begonnen, deren Auswanderung wurde akzeptiert - allerdings unter der Bedingung, dass sämtliches Vermögen zurückbleiben musste. Das Ziel der Nazis war es, "die Juden als Bettler über die Grenze zu jagen, denn je ärmer der Einwanderer, desto größer die Last für das Gastland".

Doch bis zu den Pogromen vom November 1938 zögerten ohnehin viele Juden mit der Ausreise aus ihrer Heimat. Bald danach war jedoch eine legale Auswanderung kaum mehr möglich - am Ende des Leidenswegs standen für die meisten die Gaskammern.

Die spätere israelische Ministerpräsidentin Golda Meir, die in Évian dabei war, schrieb in ihren Erinnerungen: "Dazusitzen, in diesem wunderbaren Saal, zuzuhören, wie die Vertreter von 32 Staaten nacheinander aufstanden und erklärten, wie furchtbar gern sie eine größere Zahl Flüchtlinge aufnehmen würden und wie schrecklich Leid es ihnen tue, dass sie das leider nicht tun könnten, war eine erschütternde Erfahrung."

Benz kritisiert vor allem die "restriktive Flüchtlingspolitik" der USA, die viele andere Staaten in ihrer Haltung bestärkt hätten. "Bürokratische Hindernisse, die durch isolationistische Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus von amerikanischer Seite aufgerichtet wurden, spielten die entscheidende Rolle."

Der Völkische Beobachter kommentierte triumphierend: "Niemand will sie!" Die westliche Presse fand schnell heraus, dass Évian umgekehrt gelesen das Wort "naive" ergab.

"Heuchlerische Rhetorik"

Benz hält einen Vergleich der jüdischen Flüchtlinge nach 1933 mit der Situation heutiger Asylbewerber für zulässig. Jedoch seien die Lehren aus der Geschichte "wenig nachhaltig". Zwar hätten die Väter des Grundgesetzes formuliert: Politisch Verfolgte genießen Asylrecht - doch wie kaum ein anderer Artikel sei der Satz später durch "politische Formeln und juristische Klauseln" verwässert worden.

Auch Heiko Kauffmann von Pro Asyl kommt zu einem bitteren Ergebnis: "Missbrauch des Asylrechts" - dies sei auch den NS-Verfolgten vorgehalten worden. In Évian habe die Zivilisation ihre Prüfung nicht bestanden, sagt Kauffmann. Heute erinnere die Politik der EU mit ihrem Konzept von Abschottung und Abweisung "fatal an die heuchlerische humanitäre Beschwörungs- und Mitleidsrhetorik und ihren in der Sache jedoch unerbittlich harten Abwehrkurs gegenüber Flüchtlingen vor 70 Jahren".

Doch Politiker sind für Geschichte offenbar wenig sensibel: Im Juli 2005 tagte erneut eine Konferenz in Évian. Diesmal waren es die Innenminister von Großbritannien, Spanien, Frankreich, Italien und Deutschland. Ihr Thema: "Bekämpfung der illegalen Einwanderung und die konsequente Rückführung ausreisepflichtiger Ausländer." Der größte Erfolg: Die Vereinbarung, Flüchtlinge per Charterflug in ihre Heimat zurückzubefördern.

Pro Asyl hat nun eine UN-Weltkonferenz zu den Rechten von Flüchtlingen gefordert.

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