Historische Forschung:327 Tote an innerdeutscher Grenze

Jahrerlang stritten Opferverbände über die Zahl, jetzt steht fest: Außer den 139 Berliner Mauertoten starben zwischen 1949 und 1989 327 Menschen an der innerdeutschen Grenze.

Von Antonie Rietzschel, Berlin

Emanuel Holzhauer wurde sechs Monate alt. Er starb 1977 in einem verrosteten Opel. Im Kofferraum des Autos sollten er und seine Eltern aus der DDR in den Westen geschmuggelt werden. Doch am Grenzübergang Marienborn entdeckten Grenzsoldaten die Familie. Da war der kleine Emanuel bereits tot. Die Eltern hatten dem Jungen Schlafmittel eingeflößt, um ihn ruhigzustellen. Die Hitze im Kofferraum machte die Eltern benommen, ihr Kind erstickte. Die Flucht in die Freiheit endete als Familientragödie.

Jahrelang stritten Opferverbände über die Zahl der Toten an der innerdeutschen Grenze. Erst jetzt, fast 30 Jahre nach dem Mauerfall, steht fest: Außer den 139 Berliner Mauertoten starben zwischen 1949 und 1989 an der innerdeutschen Grenze 327 Menschen. Die Mitarbeiter des Forschungsverbunds SED-Staat der Freien Universität haben die Schicksale in einem Buch akribisch aufgearbeitet. Unter den Toten sind Flüchtlinge aufgeführt, die durch Schüsse oder Minen getötet wurden. Aber auch Grenzsoldaten, die aus Verzweiflung über ihren Einsatz Suizid begingen. Hinzu kommen tragische Unfälle.

Man wolle diesen Menschen Namen und Gesicht geben, sagte Kulturstaatsministerin Monika Grütters bei der Präsentation der Forschungsergebnisse. "Das sind wir den Menschen schuldig, die für Freiheit und Selbstentfaltung ihr Leben ließen." Den Forschern unter Leitung von Klaus Schroeder und Jochen Staadt lagen insgesamt 1500 Verdachtsfälle vor. Dass am Ende 327 Fälle übrig blieben, liegt an den engen Kriterien der Forschungsgruppe. So mussten die Umstände des Todes eindeutig zuzuordnen sein, ein Fluchthintergrund bestehen oder ein Bezug zum DDR-Grenzregime. Wer beim regulären Grenzübertritt an einem Herzinfarkt starb, zählt für die Forscher nicht automatisch zu den Todesopfern. Für manche Opferverbände schon. Die "Arbeitsgemeinschaft 13. August" zählt derzeit 780 Mauertote. Ob die Debatte nun endet, darf bezweifelt werden.

Die Zahl derer, die wegen der Todesfälle an der innerdeutschen Grenze zur Rechenschaft gezogen wurden, ist überschaubar. Klaus Schroeder geht davon aus, dass nach dem Fall der Mauer gerade mal 30 Personen verurteilt wurden, häufig nur zu Bewährungsstrafen. Die Eltern des sechs Monate alten Emanuel Holzhauer wurden nach ihrem Fluchtversuch wegen "staatsfeindlicher Verbindungsaufnahme" und "fahrlässiger Tötung" zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Die Bundesrepublik kaufte sie schließlich frei.

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