Historiker Philipp Ther:"Die Geschichte relativiert die heutige Flüchtlingskrise"

Historiker Philipp Ther: Archvbild einer Demonstration gegen die geplanten Grenzkontrollen in Österreich 2016.

Archvbild einer Demonstration gegen die geplanten Grenzkontrollen in Österreich 2016.

(Foto: Sonja Marzoner)

Deutschland und Österreich könnten Flüchtlinge aus Syrien gut integrieren, davon ist der Historiker Philipp Ther überzeugt. Die Gesellschaft zahle einen hohen Preis, wenn Parteien wie FPÖ, ÖVP und CSU auf Abgrenzung setzen.

Interview von Matthias Kolb

Mit seinem Sachbuch "Die Außenseiter" liefert der Wiener Historiker Philipp Ther einen wichtigen Beitrag für die europaweite Diskussion über den Umgang mit Flüchtlingen. Er skizziert die Flüchtlingsbewegungen im Europa der Neuzeit, die 1492 mit der Vertreibung der sephardischen Juden aus Spanien begannen und seither niemals wirklich endeten. Ther analysiert, welche Faktoren für die Integration von Zuwanderern entscheidend sind und illustriert in kurzen Porträts, was Flucht für die Einzelnen bedeutet. Kritisch verfolgt der 50-Jährige die Debatte in seinem Heimatland Österreich, doch er beobachtet auch die deutsche Politik. Er warnt im SZ-Gespräch die CSU, die in Österreich gängige Rhetorik von Neid und Abgrenzung zu kopieren - davon würde lediglich die AfD profitieren.

SZ: Herr Ther, Sie schreiben in Ihrem Buch "Die Außenseiter", dass Flucht und Migration seit Jahrhunderten in Europa zum Alltag gehören. Inwieweit können diese Erkenntnisse in der Gegenwart helfen?

Philipp Ther: Die Geschichte relativiert die heutige Flüchtlingskrise. Natürlich ist es eine große Herausforderung, wenn mehr als eine Million Menschen zu uns kommen. Es gab in der Vergangenheit aber viel umfangreichere Fluchtbewegungen unter viel ungünstigeren Bedingungen. Der Blick zurück gibt eine andere Perspektive - und hilft hoffentlich dabei, früher gemachte Fehler zu vermeiden.

Welche Lehren würden Sie den Europäern mitgeben?

Die wichtigste Erkenntnis ist, dass es auch auf die aufnehmende Gesellschaft ankommt. Sie muss sich gegenüber denen öffnen, die da kommen, denn Integration ist ein zweiseitiger Prozess, der nicht immer linear abläuft. Rückschläge kommen öfter vor. Wenn man aber in Integration investiert, dann lohnt sich das. Den Regierungen steht ein breites Reservoir zur Verfügung - von Sprachkursen bis zu beruflichen Qualifikationsprogrammen. Umgekehrt gilt: Wenn man nicht investiert, dann schafft man sich Probleme für die Zukunft.

Sie betonen die Bedeutung der Solidarität. Was kann diese auslösen oder verstärken?

Ich unterscheide zwischen drei Solidaritätslinien. Die erste ist die religiöse oder konfessionelle Solidarität: Sie hat sehr geholfen, Flüchtlinge mit einer anderen Muttersprache aufzunehmen und langfristig zu integrieren. Ein Beispiel dafür waren die Hugenotten, die im 16. und 17. Jahrhundert in mehreren Ländern aufgenommen wurden - eben unter der Prämisse, dass es sich um Glaubensflüchtlinge handelte. Eine zweite große Gruppe war jene, die vor radikalem Nationalismus oder ethnischen Säuberungen fliehen musste. Hier war es wichtig, dass die aufnehmende Gesellschaft die Flüchtenden als Landsleute begriffen hat, das ist die nationale Solidaritätslinie.

Darunter fallen etwa die Vertriebenen aus den ehemals deutschen Gebieten, die nach dem Zweiten Weltkrieg in die spätere BRD kamen.

Heute sieht man es als selbstverständlich an, dass die Vertriebenen nach 1945 als Landsleute galten. Damals war jedoch durchaus umstritten war, ob die Flüchtlinge, so nannte man die zunächst, wirklich Deutsche sind. Ähnlich war es in Frankreich bei den pieds-noirs, die aus Algerien fliehen mussten.

Was ist die dritte Solidaritätslinie?

Die politische Solidarität, die sich besonders deutlich im Kalten Krieg zeigte. Hier handelte es sich meist um Menschen anderer Nationalität und Religion, denen aber geholfen wurde, weil sie vor dem Kommunismus und - aus westlicher Sicht - vor totalitären Diktaturen flohen. Diese Haltung gab es übrigens in allen westlichen Ländern, die USA etwa nahmen von 1978 an mehrere Hunderttausend Flüchtlinge aus Vietnam auf und unterstützten diese mit besonderen Hilfsprogrammen.

Für die Menschen, die heute aus Syrien und dem Irak fliehen, gibt es aber keine klare Solidaritätslinie.

Diese Menschen sind entweder vor dem Gewaltregime des Diktators Assad, dem sogenannten Islamischen Staat oder allgemein dem Bürgerkrieg geflohen. Man könnte sie demnach als politische Flüchtlinge einordnen, sie werden aber nicht so eindeutig wahrgenommen. Im Herbst 2015 gab es einen weit verbreiteten Humanitarismus, doch diese Überzeugung, aus Menschlichkeit zu helfen, trägt eben nur eine bestimmte Zeit. Man darf sich keine Illusionen machen: Die Menschen, die in Deutschland in der Flüchtlingshilfe aktiv waren und aus Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft anpackten, das war ein Sechstel der Bevölkerung. Im internationalen Vergleich ist das viel, aber die sogenannte Willkommenskultur erfasst eben nicht die ganze Gesellschaft und löste Gegenreaktionen aus.

Bis zum Herbst 2017 gab es in Deutschland laut Bundeskriminalamt nahezu einen Anschlag auf Flüchtlingsheime pro Tag. Ist der Hass gegen Flüchtlinge neu?

In der jüngeren deutschen Geschichte gab es immer wieder fremdenfeindliche Anschläge, denken Sie an die späten Achtzigerjahre und in Bayern konkret an Schwandorf, wo 1988 vier Menschen starben, weil ein Neonazi ein von Türken bewohntes Haus angezündet hatte. Danach kamen die Anschläge in Solingen und Mölln sowie die pogromartigen Vorgänge in Rostock und in Hoyerswerda. In der Nachkriegszeit gab es Gewalt gegen Vertriebene. Damals mussten Bürger ihre Wohnungen mit Flüchtlingen teilen, es gab Zwangseinweisungen. Im Vergleich dazu sind die Voraussetzungen seit 2015 weit besser. Deutschland ist viel wohlhabender als nach dem Zweiten Weltkrieg.

Sie haben auch die Integration von türkeistämmigen Gastarbeitern in Deutschland und Österreich untersucht. Welche Fehler wurden bei deren Integration gemacht?

Eine Einschränkung vorab: Es ist wichtig, zwischen Fluchtmigration und Arbeitsmigration zu unterscheiden. Die Gastarbeiter aus der Türkei kamen ja nicht, weil sie um ihr Leben fürchteten, sondern weil sie ihren Lebensstandard verbessern wollten. Flucht ist in der Regel mit einem völligen Verlust des Eigentums verbunden und auch mit Traumatisierungen. Ein Fehler von damals droht sich allerdings gerade zu wiederholen: Bei den Gastarbeitern hat man sich lange der Illusion hingegeben, dass man sie nicht integrieren muss, weil sie wieder in ihre Heimat zurückgehen würden. Es gab kaum Förderprogramme wie Sprachkurse oder spezielle Stipendien. Die Integration hat dann wesentlich später begonnen, als sie hätte beginnen können.

Was lernen wir daraus für den Umgang mit den Menschen aus Syrien und dem Irak?

Ich befürchte, dass man sich einer ähnlichen Illusion wie damals hingeben könnte . Angela Merkel sagte Anfang 2016 in einer Rede in Neubrandenburg: "Wir erwarten, dass, wenn wieder Frieden in Syrien ist und wenn der IS im Irak besiegt ist, dass Ihr auch wieder, mit dem Wissen, was Ihr jetzt bei uns bekommen habt, in Eure Heimat zurückgeht." In Österreich hat sich die neue schwarz-blaue Koalition grundsätzlich von der Integration von Flüchtlingen abgewandt. Dort steht im neuen Regierungsprogramm: Asyl ist nur Schutz auf Zeit.

Die neue Regierung in Österreich setzt auf Neid und Entsolidarisierung

Aber auch das UN-Flüchtlingshilfswerk hält es für sinnvoll, wenn Flüchtlinge in ihre Heimat zurückkehren, sobald es dort wieder sicher ist.

Natürlich ist es für den Wiederaufbau Syriens nicht gut, dass sich die Hälfte der syrischen Akademiker in der EU aufhält. Zugleich muss man jedoch davon ausgehen, dass viele Syrer hier bleiben werden. Ich bin überzeugt, dass man einen Fehler macht, wenn man glaubt, dass man die Flüchtlinge gar nicht zu integrieren braucht, weil sie alle zurückkehren werden. Wir wissen es besser aus der Vergangenheit.

Historiker Philipp Ther: Philipp Ther, Jahrgang 1967, ist Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Wien. Sein Buch "Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent" wurde 2015 mit dem Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet.

Philipp Ther, Jahrgang 1967, ist Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Wien. Sein Buch "Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent" wurde 2015 mit dem Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet.

(Foto: Barbara Mair/Universität Wien; Unsplash; Bearbeitung SZ)

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Österreich etwa 1956 und 1968 viele Flüchtlinge aus Ungarn und der Tschechoslowakei aufnahm, in den Neunzigern kamen dann Flüchtlinge aus Ex-Jugoslawien. Hilfsbereitschaft gehörte lange zur nationalen Identität.

Es gab einen breiten Konsens darüber, dass sich Österreich trotz seiner Neutralität letztlich der freien, westlichen Welt zugehörig fühlt. Und da gehörte auch diese Asyltradition dazu, mit der man sich während des Kalten Krieges moralisch positionieren konnte. Gegenüber den Flüchtlingen aus Ex-Jugoslawien gab es auch utilitaristische Motive. Österreich hat Ende der Neunziger anders als Deutschland die meisten Flüchtlinge aus Bosnien und Herzegowina behalten, weil die Arbeitslosigkeit relativ niedrig war und man diese Menschen als Arbeitskräfte gebraucht hat. Insofern war es eine Win-win-Situation. Jetzt ist das Umgekehrte zu befürchten, nämlich eine Lose-lose-Situation unter der Regierung von Bundeskanzler Sebastian Kurz.

Sie leben in Wien und haben sich kürzlich sehr kritisch über die Pläne der ÖVP-FPÖ-Regierung in Sachen Asylpolitik geäußert. Worauf zielt Ihre Kritik?

Über die Sprache dieser Koalition werden ihre politischen Ziele deutlich: Flüchtlinge wurden aus dem Regierungsprogramm als Begriff fast getilgt. Es geht dort nur noch um "illegale Migration". Das führt zu einem neuen Denkmuster und einer sinkenden Akzeptanz für diese Menschen, die nach der Genfer Konvention eindeutig als Flüchtlinge anzuerkennen sind. Eine solche Haltung erschwert außerdem die Integration, wenn sie sie nicht sogar unmöglich macht. Damit bürdet sich das Land eine schwere Last für die Zukunft auf, denn auch die neue Regierung wird feststellen müssen, dass man viele Flüchtlingen rechtlich und rein praktisch nicht so einfach zurückschicken kann.

Abgesehen von der Sprache - welche Maßnahmen planen FPÖ und ÖVP?

Laut Regierungsprogramm ist eigentlich keine Integration von Flüchtlingen mehr vorgesehen. Asylbewerber sollen nicht mehr individuell untergebracht werden, sondern nur noch in speziellen Flüchtlingsquartieren. Als Innenminister Herbert Kickl gefragt wurde, wie viele Menschen wegen diesem Plan aus Wohnungen umziehen müssten, wie viel Bedarf für Flüchtlingsunterkünfte bestehe und wo die überhaupt errichtet werden sollten, hatte er keine Antworten. Er hat sich demaskiert, aber mit solchen Parolen wurden jetzt erst mal die Wahlen gewonnen. Und über die CSU schwappt dieser Diskurs nun noch Deutschland.

Die Christsozialen wollen bei der Landtagswahl in Bayern die absolute Mehrheit verteidigen.

Die CSU schaut genau, mit welchen Versprechen die konservative ÖVP bei der Nationalratswahl erfolgreich war - wobei sie mit einem Ergebnis von 31,6 Prozent wohl nicht ganz zufrieden wäre. Also fordert die CSU nun, Sozialleistungen für abgelehnte Flüchtlinge einzuschränken. Im Vergleich zum Regierungsprogramm von ÖVP und FPÖ klingt das erst mal harmlos, doch ich befürchte, dass diese Rhetorik zu einer Entsolidarisierung führt, welche Integration verzögert oder sogar verhindert.

In Österreich sollen Flüchtlinge künftig auch all ihr Bargeld bei der Ankunft abgeben. Drohen dann nicht Armut, Stigmatisierung und Ausgrenzung?

Natürlich kann man Sozialleistungen verlagern und umwidmen, wenn diese nicht wie beabsichtigt wirken und etwa nicht dazu motivieren, eine reguläre Arbeit aufzunehmen. Aber ich warne davor, mit dem Ansatz "Flüchtlinge sollen weniger kriegen" eine Illusion bei der heimischen Bevölkerung zu erzeugen, dass diese in irgendeiner Weise davon profitiere. Das ist - milde ausgedrückt - keine seriöse Politik.

Sie klingen besorgt.

Natürlich muss man abwarten, wie die FPÖ-ÖVP-Regierung agiert. Laut Umfragen hält weit mehr als die Hälfte der Österreicher nach wie vor an traditionellen Grundwerten wie Hilfsbereitschaft, Nächstenliebe und Gastfreundschaft fest. Wenn die Regierung jetzt klar dagegen verstößt, könnte sie das unpopulär machen. Aber im Moment ist meine Hauptsorge die CSU, weil sie versucht, auf der gleichen Schiene zu fahren wie die ÖVP in Österreich. Das könnte dazu führen, dass vor allem die AfD erheblich gestärkt wird. Die Erfahrungen in Österreich zeigen, dass die Diskurse über Neid und Abgrenzung eine sich selbst verstärkende Wirkung haben. Aber das sage ich jetzt als kritischer Bürger und nicht als Historiker.

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