Historie:Eine Insel ziert sich

Die Briten blickten schon immer mit großer Skepsis auf den Kontinent. Zu Europa gehören wollten sie schon - bloß nicht zu sehr. Auch als EWG- und später EU-Staat blieben sie ein Mitglied auf Sonderwegen.

Von Stefan Ulrich

Die Briten lassen sich nicht lumpen: 840 000 Pfund geben sie aus, um Europa zu feiern. Elf Tage lang werden im Inselreich unter dem Motto "Fanfare for Europe" die Musik, die Künste und auch der Spitzensport des Kontinents präsentiert. Die Londoner können europäische Süßigkeiten und Kochkünste kennenlernen. Eine Miss Europe wird gewählt. Deutschland ist unter anderem durch den Kaiser vertreten, der aus dem Hause Beckenbauer stammt. Doch der Jubel über Großbritanniens Vereinigung mit Europa wird von einigen Misstönen gestört. Als Königin Elizabeth und Prinz Philip zur Europa-Gala im Royal Opera House vorfahren, werden sie von Europa-Gegnern mit Sieg-Heil-Rufen empfangen und ausgebuht.

Der Vorfall ereignete sich vor mehr als vier Jahrzehnten, am 3. Januar 1973. Zwei Tage vorher war Großbritannien der Europäischen Gemeinschaft (EG) beigetreten. Das Unterhaus hatte sich mit großer Mehrheit dafür ausgesprochen, wobei vor allem die konservativen Tories nach Europa strebten. Das Volk war weniger begeistert. In Umfragen sprachen sich - so wie heute wieder - etwa die Hälfte der Bürger gegen eine Mitgliedschaft aus.

Mal glücklich und mal leidvoll mit dem Kontinent verwoben

Schon damals war das Einigungsprojekt auf der Insel also nicht besonders populär. Viele Menschen argwöhnten, ihr Land würde einen Teil seiner Souveränität verlieren und das Parlament in London ein Stück seiner in Jahrhunderten gewachsenen Macht. Etliche Briten fanden zudem, Großbritannien sei allenfalls geografisch ein Teil Europas, historisch und politisch aber - Thank goodness! - außen vor.

Diese auch von erstaunlich vielen britischen Historikern vertretene Ansicht war und ist fragwürdig. Gewiss gab es Zeiten des Isolationismus, in denen sich die Insel auf sich selbst zurückzog. Dem stehen jedoch zahlreiche Phasen gegenüber, in denen sich das Schicksal Großbritanniens mit dem des Kontinents verwob - mal glücklich, mal leidvoll.

Im Jahr 43 nach Christus eroberten die Römer Großbritannien und machten es für vier Jahrhunderte zum Teil ihres Reichs, das unter anderem weite Teile des europäischen Kontinents umfasste. Schon damals gehörten die Insulaner also dazu. Später beteiligten sich die Briten an vielen Kämpfen auf dem unruhigen Kontinent, etwa im hundertjährigen anglofranzösischen Krieg, in den Schlachten gegen Napoleon oder im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Umgekehrt mischten Menschen vom Kontinent immer wieder auf der Insel mit. 1066 eroberten die Normannen England. 1689 bestieg der Statthalter der Niederlande, Wilhelm von Oranien-Nassau, den englischen, schottischen und irischen Thron. Und das heutige britische Königshaus, das Haus Windsor, entstammt dem deutschen Adelsgeschlecht der Sachsen-Coburg und Gotha. Erst im Ersten Weltkrieg benannte es sich in Windsor um.

Trotz oft engster politischer, kultureller und wirtschaftlicher Verbindungen mit "the Continent" hielt sich aber im Vereinten Königreich hartnäckig die Einstellung, gar nicht wirklich ein Teil Europas sein zu wollen. So schrieb Winston Churchill 1930: "Wir stehen zu Europa, gehören aber nicht dazu ... Wir gehören zu keinem einzelnen Kontinent, sondern zu allen."

Zwei Aufnahmegesuche schmetterte der Franzose De Gaulle ab

Dem scheint die berühmte Züricher Rede Churchills im Jahr 1946 entgegenzustehen, in der er die Jugend aufforderte: "Lasst Europa auferstehen" und dazu aufrief: "Wir müssen eine Art Vereinigte Staaten von Europa schaffen." Hatte der Staatsmann unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs seine Haltung zum British exceptionalism korrigiert? Keineswegs. Churchill wollte zwar ein einiges Europa - aber ohne Großbritannien. Die Festländer sollten sich friedlich zusammenschließen, damit London nicht wieder militärisch intervenieren musste. 1953 stellte der Premier im Unterhaus klar: "Wir haben nicht die Absicht, uns in eine europäische Föderation einbinden zu lassen." Schließlich hätten die Briten ihr Empire und ihren eigenen Commonwealth.

Doch das britische Weltreich schrumpfte durch die Entkolonialisierung zusammen. Derweil machten sich die Kontinentaleuropäer tatsächlich an ihr Einheitswerk. 1957 schufen die Beneluxstaaten, Italien, Frankreich und Deutschland durch die Römischen Verträge die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom). London wollte jedoch nicht, dass sich daraus eine politische Einheit entwickelte. Die Briten zogen vielmehr das Konzept einer Freihandelszone vor, an der sie sich auch beteiligten wollten. So schufen sie 1960 gemeinsam mit Österreich, der Schweiz, Portugal, Schweden, Dänemark und Norwegen die European Free Trade Association (Efta). Sie konnte der EWG jedoch keine Konkurrenz machen.

Um nicht den wirtschaftlichen Anschluss zu verpassen und Großbritannien einen notwendigen Modernisierungsschub zu geben, stellte die Regierung in London 1961 ein Beitrittsgesuch zur EWG. Doch davon hielt nun der französische Präsident Charles de Gaulle nichts. Er fürchtete, eine britische Mitgliedschaft würde die Macht Frankreichs schmälern und den Einfluss der USA in Europa erhöhen. Daher sagte er im Januar 1963 bei einer Pressekonferenz im Élysée-Palast, Großbritannien habe "eigenwillige Gewohnheiten und Traditionen". Es sei "insular" und "maritim" und solle bitte draußen bleiben. Der damalige britische Premier Harold Macmillan sagte daraufhin über de Gaulle, der Franzose wolle lieber der Gockel auf einem kleinen Misthaufen geben, als einen größeren Misthaufen mit einem zweiten Hahn zu teilen.

1967 scheiterte ein zweites britisches Gesuch wieder an de Gaulle. Erst unter dessen Nachfolger Georges Pompidou durfte Großbritannien schließlich 1973 Mitglied der Europäischen Gemeinschaft werden. Doch nun fingen wieder die Briten an, sich zu zieren. 1974 gewann die Labour Party die Wahl. Harold Wilson wurde (wieder) Premier und verhandelte die britische EG-Mitgliedschaft nach. Streitpunkte waren die Höhe des britischen Beitrags und die Agrarpolitik. 1975 stimmten die britischen Wähler dann aber mit 67 Prozent der Stimmen für Europa. Die anglikanische Kirche, die Wirtschaft und nahezu die ganze Presse hatten dazu aufgerufen.

Es hätte der Beginn einer wunderbaren Beziehung werden können, doch es kam anders. 1979 zog die konservative Margaret Thatcher in 10 Downing Street ein. Sie brachte die britische Wirtschaft wieder in Schwung und gab ihrem Land Selbstbewusstsein zurück. 1984 setzte sie ausgerechnet im französischen Fontainebleau einen sogenannten Britenrabatt beim EG-Haushalt durch. In den Folgejahren isolierte sie ihr Land politisch in Europa. Sie stimmte in Brüssel häufig mit Nein und unterlag oft. Zugleich schwor der australisch-amerikanische Unternehmer Rupert Murdoch seine britischen Medien auf einen scharfen Anti-Europa-Kurs ein.

Auch unter Thatchers Nachfolgern blieb Großbritannien ein Mitglied auf Sonderwegen, das weder am Euro noch am Schengen-Raum teilnahm - und nach Ansicht etlicher Pro-Europäer in Brüssel mehr blockierte als kooperierte. Zwar wurde die ursprünglich besonders europa-skeptische Labour Party deutlich EU-freundlicher; dafür schwenkte ein beträchtlicher Teil der konservativen Tories ins Lager der EU-Gegner um.

Auch David Cameron, der seit 2010 Regierungschef ist, attackierte die tatsächlichen und angeblichen Schwächen der EU gern, heftig und häufig. 2013 kündigte er Verhandlungen zur Reform der Europäischen Union und einen anschließenden britischen Volksentscheid an. Er betonte, die Briten würden ihre Souveränität leidenschaftlich verteidigen. Er sagte aber auch: "Unsere Geschichte ist nicht bloß die einer Insel, es ist auch eine Geschichte des Kontinents." Doch sein Einsatz für ein Großbritannien in der EU kam zu spät.

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