Krim:Tränen der Tataren

Krim: Ein Tatarendorf auf der Krim - viele Tataren fühlen sich fremd in der Heimat, aus der sie der sowjetische Diktator Stalin von 1944 an deportieren ließ.

Ein Tatarendorf auf der Krim - viele Tataren fühlen sich fremd in der Heimat, aus der sie der sowjetische Diktator Stalin von 1944 an deportieren ließ.

(Foto: Stanislav Krupar/laif)

Die Krimtataren begehren gegen Wladimir Putin auf - ein sich über Jahrhunderte hinziehender Konflikt mit Russland flammt wieder auf.

Von Frank Nienhuysen

Die Zarin reiste mit großem gepäck. Am 18. Januar 1787 machte sie sich vom Hof, 124 Schlitten und 40 Transportwagen im Gefolge. Hunderte kräftige Pferde standen unterwegs an den Poststationen, frisch gestriegelt und gestärkt für den Triumphmarsch nach Süden. Katharina die Große wollte ihre Herrschaft auskosten.

Vier Monate dauerte die Reise vom winterlichen Sankt Petersburg bis auf die üppig blühende Krim, die gerade annektierte Schwarzmeer-Halbinsel. Dort war es nicht nur warm, dort war die Zarin auch dabei, ihren Einflussbereich weiter zu vergrößern. Und nun beabsichtigte sie das ihrem Gast zu zeigen.

Katharina nahm den österreichischen Kaiser Joseph II. mit auf die große Reise, sie wollte ihn, nein, ganz Europa beeindrucken mit Russlands ausgedehntem Reich, dem neuen Flottenstützpunkt auf der Krim und ihrer Bereitschaft, es nun in einem Krieg mit den Türken aufzunehmen.

Den Kaiser wusste sie dabei mit manch listig aufgehübschter Fassade, mit Claqueuren und pompösen Truppenparaden vortrefflich zu blenden. Aber mitunter war die Pracht auch echt. Etwa am Ende ihres Zuges, als sich die Monarchen auf der eroberten Krim niederließen, in Bachtschissarai, im Palast des Khans der Krimtataren.

Dort gab die russische Zarin 25 Jahre nach Beginn ihrer Herrschaft am marmornen Tränenbrunnen ein rauschendes Fest. "Wir befinden uns hier zwischen Minaretts und Moscheen, wo man schreit, betet und sich auf einem Bein dreht, fünfmal in 24 Stunden", schrieb Katharina II. "Wir sehen dies alles vom Fenster aus." Die muslimischen Krimtataren, die vom Khanspalast aus jahrhundertelang den Russen ein verwegener und gefürchteter Gegner waren, hatten ihre Bastion, ihr Herzland an Russland verloren.

Die Geschichte der Krim und der Krimtataren ist seit Jahrhunderten eine Geschichte von Machtfehden und Eroberungszügen, von Vertreibung und dem Kampf um Rechte und Rückkehr. Auch heute noch. Ein paar Wochen erst ist es her, dass - vermutlich - Krimtataren und ukrainische Extremisten durch Sabotage die Energieleitung vom ukrainischen Festland auf die Krim kappten. Sie sprengten Strommasten, und fast auf der ganzen Halbinsel ging das Licht aus. Warentransporte auf die Krim hatten die Tataren schon Wochen vorher blockiert.

Sie fühlen sich schikaniert seit der Annexion durch Russland im vergangenen Jahr, verlangen, dass Entführungen und Morde untersucht werden, festgenommene Krimtataren freikommen, ein gesperrter tatarischer Fernsehsender wieder zugelassen wird. Die Strommasten wurden wieder repariert - was sich für das Verhältnis zwischen Krimtataren und Moskau allerdings nicht sagen lässt. Die jahrhundertelange Geschichte einer belasteten Beziehung setzt sich auch 2016 fort.

Anfangs waren es die Raubzüge der muslimischen Reiterstämme gewesen, die Angst und Schrecken verbreiteten. "Ein ungebetener Gast ist schlimmer als ein Tatar", heißt noch heute eine russische Redewendung, und der Argwohn hat seinen Ursprung vor allem im 16. und 17. Jahrhundert, als die tatarischen Khanate mächtig und einschüchternd waren.

Fast 200 000 Tataren wurden 1944 deportiert

Damals betrieben sie ein einträgliches Geschäft, dem insbesondere Russen zum Opfer fielen. Russland hatte sich damals zwar schon einigermaßen von der Herrschaft der Mongolen und Tataren befreit, aber eben nicht überall im Reich. Im Süden waren die Russen Menschenraub und Erpressung ausgesetzt. Auf den Sklavenmärkten blühte ein zynischer Handel, denn das mit den Krimtataren verbündete Osmanische Reich verlangte nach Arbeitskräften und Galeerendiensten. Und die Tataren beschafften sie.

Die Zarenregierung musste sogar den Staatsschatz plündern und ein spezielles Steuergesetz verabschieden, um mit Lösegeldern immer wieder die eigenen Leute freizukaufen. Später beschenkte sie die Tataren pauschal mit üppigen Summen, um diese möglichst freundlich zu stimmen und von weiteren Beutezügen abzuhalten. Was für eine Demütigung. "Sie sind kräftigen Körpers und kühnen Muts, unkeusch und von verkehrten Trieben", hatte der kaiserliche Gesandte Sigmund von Herberstein, einst Gast am Hof des Moskauer Großfürsten, in seinen Reiseaufzeichnungen über die Tataren einmal geschrieben.

Bis zum 18. Jahrhundert herrschten die Tataren auf der Krim, sie hatten Einfluss auf Moskau und auf Polen, auf das Großfürstentum Litauen, und sie waren selber beeinflusst vom Osmanischen Reich. Nach der Eroberung durch die russische Monarchie und dem Machtverlust der Krimtataren wanderten viele von ihnen zu den Osmanen aus. Auf der Halbinsel wurden dafür russische und ukrainische Bauern angesiedelt.

Die Krimtataren hatten nicht nur ihre Herrschaft verloren, sie wurden auch zur Minderheit in der eigenen Heimat. Nach der russischen Revolution wurde aus der Krim eine Autonome Sowjetrepublik, Russisch und Tatarisch waren die beiden offiziellen Sprachen. Doch die Sowjetunion brachte den Krimtataren noch fürchterliche Zeiten.

Waren es die alten Vorurteile gegen Tataren als apokalyptische Höllenreiter, ihr muslimischer Glaube, Zweifel an ihrer Loyalität zu Moskau, oder Rache, weil mehrere Tausend von ihnen wegen Stalins Terrorregime auf der Seite Hitlers kämpften: Genosse Stalin jedenfalls, Diktator sowjetischerseits, ließ die Krimtataren auf brutale Weise von der Halbinsel deportieren, obwohl die weitaus meisten von ihnen nicht kollaborierten und sehr wohl der Roten Armee halfen im Kampf gegen die deutschen Nazis.

"Vaterlandsverrat" - mit diesem Stigma ließ Stalin die Tataren in enge Viehwaggons stecken und schickte sie in die Wüste. Nach Usbekistan, nach Kasachstan. In die Hitze Zentralasiens, nur weit fort von Moskau und von ihrer angestammten Heimat: der Krim. Fast 200 000 Tataren wurden seit Mai 1944 deportiert, Zehntausende von ihnen starben.

Haft, Exil, Sabotage - die Wunden von einst reißen wieder auf

Erst 1967 wurden die Krimtataren von der Sowjetmacht rehabilitiert, aber das war vor allem ein symbolischer Erfolg: zurück durften sie nicht. Das änderte sich erst in der Ära von Michail Gorbatschow. Getragen vom Wind der Perestrojka, kehrten sie in einer großen Migrationswelle zurück ans Schwarze Meer. Mitte der Neunzigerjahre lebten schon wieder mehr als 250 000 Tataren im Umkreis des alten Khan-Palasts, den marmornen Tränenbrunnen, ein Werk persischer Meister, in greifbarer Nähe. Aber ihre Dörfer trugen nun russische Namen, und in ihren Häusern wohnten längst andere. Ein neuer Kampf begann.

Tartaren Zweiter Weltkrieg Krim

Einige Krimtataren, wie diese bewaffneten Reiter, haben während des Zweiten Weltkrieges mit den Deutschen kollaboriert. Sowjet-Diktator Stalin bestrafte die gesamte Volksgruppe. Die Farbaufnahme ist um 1942 entstanden.

(Foto: Oliver Das Gupta)

Integration wäre wünschenswert gewesen, stattdessen wucherten die Ressentiments auf beiden Seiten. Viele Tataren hielten die Russen für Eindringlinge, für Vertreter eines rücksichtslosen Imperiums. Umgekehrt: Russen sahen in den Tataren Neuankömmlinge, die ihnen nun Land und Besitz streitig machen wollten. Das Nebeneinander wurde auch nicht dadurch harmonischer, dass die Tataren sich entschlossen zeigten und zu organisieren verstanden, vertreten durch die Medschlis, den politischen Tatarenrat.

Pikanterweise blieb das Verhältnis auch gestört, als sich die Geschichte mit brachialer Kraft veränderte, die Sowjetunion kollabierte und die Krim-Bewohner - Tataren inklusive - sich nun plötzlich in einer unabhängigen Ukraine wiederfanden. Aus Sicht der Tataren setzte sich ihre Diskriminierung nahtlos fort. Sie pochten auf mehr und bessere Arbeitsplätze, auf mehr Land als das öde Ackerland im Inneren der Halbinsel, das ihnen zugewiesen wurde. Und auf eine Beteiligung am Tourismusgeschäft.

Verbündeter Türkei

Neue, schlichte Siedlungen waren zwar entstanden, Moscheen wurden wieder gebaut. Doch auf den attraktiven Süden, das einträgliche Geschäft in den sonnigen, schmuckigen Küstengebieten, hatten sie kaum Zugriff nach den Jahrzehnten in der trostlosen Verbannung. Und die Krimtataren wehrten sich, auch damals schon mit Blockaden von Verkehrswegen, dem Klassiker des zivilen Ungehorsams.

Größere Verbündete fanden die zurückgekehrten Muslime eher woanders als in der eigenen Regierung - in der Türkei. Historische Traditionen, die pantürkische Vision des krimtatarischen Adeligen Ismail Gasprinskij, die Religion, die gemeinsame Familie der Turksprachen, all das verband beide Seiten und mündete in diverse Abkommen und gesponserte Hilfsprojekte. Krimtataren durften etwa kostenfrei an türkischen Universitäten studieren.

Aber nun sind die alten Wunden vollends wieder aufgerissen - viele Jahrhunderte nach dem Sklavenhandel der Khane, wenige Jahrhunderte nach der Eroberung durch eine deutsche Prinzessin, die zur mächtigen russischen Zarin geworden war. Die Krimtataren haben sich vergeblich gegen den Anschluss der Halbinsel an Russland gestemmt. Viele fühlen sich seitdem unterdrückt oder haben ihre Heimat bereits Richtung ukrainisches Festland verlassen.

Ihr Anführer wiederum darf in seine Heimat nicht zurück, sein Stellvertreter ist in Haft. Die Hoffnungen der Krimtataren, dass eine Integration der Ukraine mit der Europäischen Union ihre Lage stärken könnte, sind zerstoben. Der Tränenbrunnen in Bachtschissarai, einst gebaut zu Ehren der gestorbenen Frau des krimtatarischen Khans, in Versen geadelt durch den Dichter Alexander Puschkin - er wird jetzt von russischen Touristen bewundert.

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