Hintergrund:Karlsruhe verlangt klare Entscheidung der Politik

Verfassungsgericht: Ob Lehrerin mit Kopftuch unterrichten darf, muss gesetzlich geregelt werden.

Von Helmut Kerscher

(SZ vom 25.09.2003) - Das Urteil hätte eigentlich im Sommer ergehen sollen - und mit Bertold Sommer, dem zuständigen Verfassungsrichter im Kopftuch-Streit. Doch nun war statt des mittlerweile ausgeschiedenen Richters Sommer (der das Urteil noch unterschrieb), erstmals dessen Nachfolger Michael Gerhardt zu sehen.

Der trat, was in Karlsruhe in vergleichbaren Fällen durchaus üblich ist, bei der Verkündung mit auf, obwohl er mit dem Urteil nicht das Geringste zu tun hat. So erlebte Gerhardt, früherer Richter am Bundesverwaltungsgericht, hautnah, wie eine Mehrheit seiner neuen Kollegen das Kopftuch-Urteil seines alten Gerichts als verfassungswidrig kassierte - und wie drei überstimmte Richter aus dem eher konservativen Lager das alte Urteil und die darin formulierte Entscheidung vehement verteidigten.

Während der anderthalbstündigen Verkündung hob sich gegen das leuchtende Rot der Richterroben das blassgelbe Kopftuch der "Beschwerdeführerin" Fereshta Ludin ab, das mit vielfältigen Deutungen befrachtet und als "abstrakte Gefahr" für Schüler, Lehrer, Eltern und die Neutralitätspflicht des Staates bezeichnet wurde.

"Wir wissen noch nicht genug"

Senatsvorsitzender Winfried Hassemer betonte beim Vortragen der Mehrheitsmeinung, dass "wir noch nicht genug wissen" über die Wirkung des Kopftuchs einer Lehrerin an öffentlichen Schulen. Der Aussagegehalt des Kopftuchs und die Motive seiner Trägerinnen seien höchst unterschiedlich.

Es könne ein Zeichen für religiös fundierte Bekleidungsregeln oder für Traditionen in der Herkunftsgesellschaft sein, werde in jüngster Zeit aber auch verstärkt als politisches Symbol des islamischen Fundamentalismus gesehen. Hassemer warnte davor, die Bedeutung des Stoffs auf ein Symbol gesellschaftlicher Unterdrückung der Frau zu verkürzen.

Nach neueren Forschungen wählten junge muslimische Frauen das Kopftuch auch, um ohne Bruch mit dem Herkunftsland ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Ganz anders die überstimmten Richter, deren Ansicht Udo Di Fabio referierte.

Beitrag zur Integration

Sie bezeichneten das Kopftuch als ein "Symbol von starker religiöser und weltanschaulicher Symbolik", das für viele Islam-Gläubige die Unterordnung der Frau unter den Mann gewährleiste. Entscheidend sei die objektive Wirkung des Symbols und dessen möglicher Einfluss auf emotional überforderte Kinder. Das Trio betonte die möglichen Konflikte wegen des Kopftuchs.

Anders wiederum die Mehrheit. Auch sie wollte zwar eine Beeinflussung von Schulkindern und Konflikte mit den Eltern nicht ausschließen. Sie konnte sich aber auch positive Folgen vorstellen, wenn in der Schule unterschiedliche religiöse Auffassungen aufeinander treffen würden: Hier könne ein "tolerantes Miteinander mit Andersgesinnten" geübt werden, hier böte sich die "Chance zur Erkenntnis und Festigung des eigenen Standpunkts" sowie für einen Beitrag zur Integration.

Eine "abstrakte Gefahr" reiche jedenfalls ohne gesetzliche Grundlage nicht für einen Eingriff in die Glaubensfreiheit der Lehrerin und für ein Verbot der Verbeamtung aus. Den naheliegenden Vergleich mit Kreuzen in Schulen zog das Urteil so: Es mache für die Wirkung religiöser Ausdrucksmittel einen gewaltigen Unterschied aus, ob ein Zeichen auf staatliche Veranlassung oder aufgrund eigener Entscheidung einer Lehrkraft verwendet werde.

In Grundsatzfragen loyal

Das sah die Minderheit völlig anders. Sie stellte die Grenzen der Grundrechte von Beamten in den Vordergrund. Wegen der besonderen "Nähebeziehung" zum Staat unterlägen Beamte besonderen Dienstpflichten wie dem Gebot der Mäßigung und der Neutralität. Ein Beamter sei zwar kein bloßes "Vollzugsinstrument" des Staates, müsse sich mit diesem aber in Grundsatzfragen loyal identifizieren.

Klipp und klar hieß es im Sondervotum: "Eine Lehrerin an einer Grund- und Hauptschule verstößt gegen Dienstpflichten, wenn sie im Unterricht mit ihrer Kleidung Symbole verwendet, die objektiv geeignet sind, Hindernisse im Schulbetrieb oder gar grundrechtlich bedeutsame Konflikte im Schulverhältnis hervorzurufen."

Die gegensätzlichen Sichtweisen kulminierten in der Frage, wer das Spannungsverhältnis der verschiedenen Rechtspositionen ordnen solle: "Behörden und Gerichte" meinte die Minderheit; "die Landtage" entschied die Mehrheit. Rechtsstaatsprinzip und Demokratiegebot verpflichteten nämlich den Gesetzgeber dazu, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen selbst zu treffen.

Angemessene Übergangsfrist

Ein parlamentarisches Verfahren stelle sicher, dass in Entscheidungen von solcher Tragweite auch die Öffentlichkeit eingebunden werde. Im Ergebnis könne ein Parlament auf die zunehmende weltanschaulich-religiöse Vielfalt in der Schule auch mit einer "strikteren Zurückdrängung jeglicher religiöser Bezüge" antworten.

Für die Minderheit war der Ruf nach dem Gesetzgeber inhaltlich und prozessrechtlich ganz falsch. Es handle sich um eine "Überraschungsentscheidung", mit der niemand habe rechnen können. Die Mehrheit habe das Recht der Beteiligten, auch des Staates, auf rechtliches Gehör "nicht hinreichend berücksichtigt".

Zumindest hätte dem Gesetzgeber eine angemessene Übergangsfrist zugebilligt werden müssen. Im Übrigen werde das Bundesverwaltungsgericht, an das der Rechtsstreit zurückgeht, "in einer rechtsstaatlich bedenklichen Weise im Unklaren gelassen".

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