Hintergrund:Chronik eines vorhersehbaren Debakels

Vergessliche Beamte, unwissende Politiker: Die peinlichen Fehler im NPD-Verbotsverfahren wären vermeidbar gewesen.

Susanne Höll

Manche Übel kommen plötzlich über die Menschen. Dazu zählen Erdbeben, Hexenschüsse und Blitzeis auf Straßen. Andere schleichen sich heran. Würde und wollte man diese als Übel erkennen, könnten die Folgen verhindert, zumindest aber gemildert werden. Die Umweltverschmutzung fällt in diese Kategorie genauso wie Nikotinsucht und die V-Mann-Affäre des Bundesinnenministeriums (BMI).

Die Chronik des letztgenannten Debakels zeigt, dass es vermeidbar war, hätten einige Beamte rechtzeitig gesagt, was sie wussten und hätten die allermeisten Handelnden nicht die Ansicht vertreten, dass dem Bundesverfassungsgericht die Wahrheit zumindest zeitweise vorenthalten werden könnte.

Juni 2001: Bei einem Treffen von Verfassungsschutz-Chefs aus Bund und Ländern bittet das BMI mit Blick auf den NPD-Verbotsantrag um Informationen über V-Leute, die die rechtsextreme Partei ausspionierten. Als vereinbart galt, dass keine aktiven Spitzel als Zeugen in den Klageschriften aufgeführt werden.

August 2001: Das Land Nordrhein-Westfalen informiert das BMI, dass der NPD-Funktionär Wolfgang Frenz bis 1995 ein V-Mann war. Äußerungen von Frenz aus späteren Jahren waren als Beweismittel in die Klageschriften für Karlsruhe aufgenommen worden. Der Leiter der BMI-Abteilung für Innere Sicherheit, Werner Müller, deponiert die brisante Nachricht nach Worten Schilys in einem Geheimschutzfach und vergisst, sie im Haus weiterzugeben.

Mitte Oktober 2001: Bei einem Treffen von Beamten aus Bund und Ländern wird angeblich auch auf Drängen Bayerns noch einmal ausdrücklich um Informationen über Spitzel gebeten. Grund sind NPD-Behauptungen, die Karlsruher Verbotsklagen beruhten auf falschen Angaben von V-Leuten.

10. Dezember 2001: Ein schriftlicher Vermerk über das Oktober-Treffen und die Informationsbitte wird offiziell verschickt. Als Grund für die Verzögerung wird im Januar die Erkrankung eines Ländervertreters genannt werden.

16. Januar 2002: Der Leiter der BMI-Abteilung Verfassung, Klaus-Dieter Schnapauff, informiert den Karlsruher Verfassungsrichter Hans-Joachim Jentsch offenbar in Eigeninitiative, dass der Zeuge Wolfgang Frenz ein Informant des Verfassungsschutzes war. Anders als andere Prozessbeteiligte soll Schnapauff der Ansicht gewesen sein, dass das Gericht umgehend und nicht erst in der mündlichen Verhandlung in Karlsruhe im Februar vom Status des Mannes wissen sollte. Der war schon deshalb nicht mehr geheim zu halten, weil Frenz beim nordrhein-westfälischen Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) eine Aussagegenehmigung für Karlsruhe beantragt und erhalten hatte. An diesem oder am nächsten Tag geht im BMI als Reaktion auf den Vermerk vom 10. Dezember aus Nordrhein-Westfalen eine neuerliche offizielle Information über den Ex-Spitzel Frenz ein. BMI-Staatssekretär Claus Henning Schapper ist informiert, nicht aber Schily.

18. Januar 2002: Jentsch bittet Schnapauff telefonisch um eine schriftliche Information im Fall Frenz.

19./20. Januar 2002: In Berlin beraten Beamte aus Bund und Ländern über den Umgang mit Zeugenaussagen von V-Leuten. Ländervertreter erhalten angeblich erst hier die jüngste NRW-Dokumentation über Frenz. Die Vertreter des BMI informierten dort nach Darstellung aus Bayern nicht über die jüngsten Kontakte Schnapauffs mit Jentsch und deshalb auch nicht über die Bitte des Gerichts nach schriftlicher Information, die im Nachhinein als Warnhinweis gewertet wird. In dieser Kenntnislage verabredet die Runde abermals, dass die Spitzeltätigkeit von Frenz erst in der für Februar angesetzten mündlichen Gerichtsverhandlung erklärt wird.

21. Januar 2002: Das Verfassungsgericht bittet das BMI abermals um schriftliche Informationen zum Fall Frenz. Dies wird nach Karlsruher Darstellung abgelehnt, auch mit der Begründung, man habe eine Fürsorgepflicht für den Mann.

22.Januar 2002: Das Gericht lässt das BMI wissen, dass es wegen des Falls Frenz die mündliche Verhandlung im NPD-Verbotsverfahren aussetzt. Schapper und Schnapauff informieren Schily, der dabei nach eigenen Worten erstmals von Frenz hört. Wenig später wird auch der bayerische Innenminister Günther Beckstein (CSU) in Kenntnis gesetzt und erfährt nach Münchner Darstellung dabei erstmals von den bisherigen Informationspannen.

23. Januar 2002: Schily informiert den Innenausschuss des Bundestags über die Vorkommnisse. Dass sein Haus seit August über Frenz Bescheid wusste, sagt er dort nicht. Von Müllers Information erfährt Schily nach eigenen Worten erst nach Ende der Sitzung.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: