Hessen-SPD:Mit welchen Augen jemand die Welt sieht

Lesezeit: 8 min

Vier Abweichler durchkreuzten einst die Pläne der hessischen SPD-Politikerin Ypsilanti. Dem Journalisten Volker Zastrow gelingt es, mit seinem Buch "Die Vier" ins Innere des Geschehens vorzudringen. Literaturkritische Anmerkungen

Gustav Seibt

So beschreibt ein Autor der mittleren Generation einen Frankfurter SPD-Politiker: Gernot Grumbach, "verkörperte mit seinem löwensenfbraunen Sakko über schwarzen Rollkragenpullovern aus untergegangenen Perlonarten und einem Gesichtsausdruck wie Löschpapier die Unsterblichkeit des sozialdemokratischen Nebenbeamtentums.

Die vier SPD-Rebellen: Dagmar Metzger, Jürgen Walter, Silke Tesch und Carmen Everts (von links) (Foto: Foto: dpa)

Aufgesetzt langsam gehend, schob er sich bei Parteiveranstaltungen sacht durch die Reihen, auf den leisen, weichen Sohlen seiner riesigen Mokassins, des einzigen Accessoires, das ihn noch mit Karl May zu verbinden schien". Kurz vorher hat der Leser erfahren, Grumbach habe über das Spätwerk Karl Mays promoviert.

140 Seiten später wird er in das Heim jenes Grumbach geführt: "Gernot Grumbach lebte in einer schönen Altbauwohnung in Frankfurts großbürgerlichem Westend, in der Beletage, gleich hinter den Bankentürmen. Vor dem Fenster standen zwei alte Ledersessel, und ringsumher an den dreieinhalb Meter hohen Wänden, selbst unter dem Fenstersims, gab es Regale voller Bücher.

Ganz oben die nachtblauen Marx-Engels-Werke. Dann Krimis von Jeffrey Deaver, politische, sozialwissenschaftliche, philosophische Literatur. Dazwischen eine Musikanlage mit einem silbernen Tonbandgerät, das einmal das Feinste vom Feinen gewesen war, dazu Kassetten, CDs.

In einer Anrichte warteten erlesene Scotch-Flaschen auf Zuspruch. Auch ein lebensgroßer Löwe stand im Raum, mit dem Steiff-Knopf im Ohr: Den hatte Grumbach sich aus einem Impuls heraus einmal zu Weihnachten geschenkt."

Grumbach "war links, gewiss, aber liebte den bürgerlichen Lebenszuschnitt, den Bildungsroman, das Feuilleton". Er und seine Freunde "hatten den Geist der späten sechziger, frühen siebziger Jahre, damals noch saftig perlend und frisch, in sich aufgenommen und bewahrt; Grumbachs Wohnung war wie ein Museum dieser Ideale.

Der Geist der Bewegung war, in unzähligen heißen Frankfurter Sommern und gut beheizten Frankfurter Wintern, in den vielen Büchern zu Futtergebirgen für Staubmilben getrocknet.

Grumbach lebte mittendrin, in seiner Welt, einer politischen Welt. Die er durchschaute, plante, projektierte. Es war eine weite Welt, die in seinen Regalen, seinen Büchern steckte, über deren Seiten winzige Milben krabbelten wie blasse Punkte."

Der Schriftsteller, der das geschrieben hat, tritt nicht in Klagenfurt auf, er hat nicht in Hildesheim oder Leipzig Literatur studiert, er ist auch kein Anfänger, der zu viel Simenon gelesen hat.

Volker Zastrow, Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, will mit seinem Umriss der realen Figur Grumbach etwas wissen: "Wie kann man erfahren, mit welchen Augen jemand die Welt sieht?"

Denn Zastrow veröffentlicht in dieser Woche eine 400 Seiten lange Recherche über die Geschichte der "hessischen Vier", der vier Abweichler im Wiesbadener Landtag, die am 3. November 2008, einen Tag vor der Abstimmung zur Wahl des Ministerpräsidenten, verkündeten, nicht für Andrea Ypsilanti votieren zu können, aus Gewissensgründen, weil für deren Wahl die Stimmen der Linkspartei erforderlich gewesen wären ( Die Vier. Eine Intrige. Rowohlt-Verlag).

Der Kampf um diese Frage - soll und darf die hessische SPD trotz anderslautender Aussagen vor der Wahl mit der Linkspartei zusammengehen, um eine Regierung zu bilden? - wuchs sich zu einem der schrecklichsten innerparteilichen Kämpfe der deutschen Nachkriegsgeschichte aus.

Für die Öffentlichkeit nahm er symbolhafte Züge an, denn es schien um Lüge und Glaubwürdigkeit im politischen Handeln zu gehen. Diesen Kampf erforscht Zastrows Buch von Grund auf, und es erzählt ihn in wesentlichen Zügen neu, so wie die Öffentlichkeit ihn bisher nicht kannte. So hat "Die Vier" das Zeug, auch eine politische Nachricht zu werden.

Dieses Buch, der hochriskante Versuch, Politik nicht nur als System, Kommunikation, Kräftefeld und Machtspiel zu beschreiben, sondern aus konkreten Personen mit ihren Schwächen, Tragödien und Irrtümern, ihrem Mut und ihrer Gewissensstärke zu entwickeln, verdient es, mit anderen Versuchen verglichen zu werden, deutsche Politik der Gegenwart literarisch zu durchleuchten.

Denn in diesem Feld behauptet sich Volker Zastrow glänzend. Auch wer an Hessen nur marginales Interesse nimmt, kann hier einen erschütternden Roman lesen.

Das soll kein vergiftetes Lob sein, denn Zastrow hat überaus sorgfältig gearbeitet. Er hat mit den Beteiligten stunden- und tagelange Interviews geführt, Tausende Mails durchgesehen, sich SMS zeigen lassen, Aussagen verglichen und Ortstermine wahrgenommen. Nichts sei erfunden, selbst dann nicht, wenn er Gefühle und Gedanken der Handelnden wiedergebe.

Und Zastrow gelingt das Einzigartige: Er dringt ins Innere des Geschehens vor. Anders als Rainald Goetz, der in seinem Blog "Klage" den Berliner Politikbetrieb mit physiognomischer Brillanz von außen, als großes Theater mit oft grotesken Figuren beschrieb; anders als Michael Kumpfmüller, der in seinem Roman "Nachricht an alle" aus den Meldungen der letzten Jahre einen viel zu großen Plot mit viel zu hastig konturierten Figuren konstruierte.

Über die vier SPD-Abweichler: Zastrow erfindet nichts, aber er arrangiert sein Material mit Meisterhand (Foto: Foto: AP)

Am ehesten lässt sich Zastrows romanhafte Recherche mit Dirk Kurbjuweits spannender Novelle "Nicht die ganze Wahrheit" (auch dies ein Buch des Jahres 2008) vergleichen.

Auch Kurbjuweit ist Journalist, er arbeitet beim Spiegel, zugleich ist er ein erfahrener Romancier. In "Nicht die ganze Wahrheit" erzählte er eine eher kleine Geschichte, die durch ihre Überschaubarkeit intensiv wurde: den Ehebruch eines Parteifunktionärs unter den Bedingungen der totalen Beobachtung durch die Medien, in der sich heute Politik abspielt.

Dahinter kommt dann das größere Thema von Öffentlichkeit und Geheimnis zum Vorschein, denn Kurbjuweits Hauptfigur hat noch eine ältere Leiche im Keller. Trotz dieser klassischen Krimihandlung versichern Berliner Politiker, die das Buch gelesen haben, ihre Lebens- und Arbeitswelt sei genau getroffen.

Zastrows "Die Vier" teilt mit Kurbjuweits Buch die kluge Beschränkung des Plots und die damit möglich gewordene Intensität der Milieu- und Personenschilderung. So steht es zwischen Goetz, der keinen Plot hat, aber vorzüglich beobachtet, und Kumpfmüller, der zu viel Plot hat, aber keine glaubwürdigen Figuren entwickelt.

Zastrow erfindet nichts, aber er arrangiert sein Material mit Meisterhand. Da uns die politische Nachricht, die das Buch enthält, hier nicht beschäftigt, dürfen wir die Kritikercourtoisie üben, die bei Kriminalromanen die Lösung nicht verrät.

Nur so viel: Der erste Teil heißt "Ein mal vier". Er stellt die vier Abweichler als Gruppe in der Anspannung ihres Auftritts vor, auf dem sie die Wahl absagten.

Der folgende Teil "Vier mal eins" zeigt die Biographien und Vorgeschichten der Protagonisten; hier geht Zastrow teilweise tief in die Vergangenheit, zurück in die Kindheiten der Personen, die sich dann am dramatischsten Tag ihres Lebens so verwegen exponierten.

Der dritte Teil "Zwei mal zwei" bringt die Auflösung, die unmittelbare Vorgeschichte der Pressekonferenz. Die Vierergruppe entpuppt sich als zusammengesetzt aus zwei Paaren.

Nach der ungeheuren Spannung, die Zastrow in den ersten 350 Seiten aufgebaut hat, wirkt die Auflösung etwas enttäuschend. Das teilt sie mit dem Ende von vielen guten Spannungsbüchern, beispielsweise fast allen Romanen von Georges Simenon. Denn große Spannung appelliert natürlich immer auch an das Märchenland der Kindheit im Leser, an den Rätselwald voller Schrecken. Wenn dann bloß Eifersucht, Geldgier oder Macht die Motive sind, kann man leicht ernüchtert sein.

Das Großartige bei Zastrow ist: Er entwirft nicht nur ätzende und plausible Bilder vom Betrieb in Politik, Parteien und Medien, dem Kommunikationschaos in dramatischen Momenten, dem Schwirren von Gerüchten, Missverständnissen und Täuschungen in Handy-Telefonaten, Mails und SMS, von der Dynamik auf Parteiversammlungen und in den Ortsgruppen - selten hat man so akribisch dargestellt bekommen, wie Politik an der Basis funktioniert; darüber hinaus aber dringt Zastrow vor bis in die Seelen seiner Figuren, ihre Schwächen, Eitelkeiten und Verletzungen, sogar bis in kindliche Schrecken.

Es ist noch harmlos ätzend, wenn er von Jürgen Walter, dem Mann in der Vierergruppe, feststellt, er sei "hinter der Fassade flotter Freundlichkeit selbstbezogen und daher empfänglich für die neoliberale Mode" gewesen, "die wie die süßen Cocktails in den Lifestyle-Bars nach ewiger Jugend schmeckte".

Oder wenn er Dagmar Metzgers Genuss an ihrer durch das frühe Nein zur Linkskoalition gewonnenen Popularität glossiert: "Wenn Dagmar Metzger sich auf die Socken machte, traf sie lauter Leute, die lieb zu ihr waren." Geschenkt.

Genuin literarisch hingegen ist der Gebrauch von Leitmotiven, den Zastrow macht, und die im Verlauf seines Textes eine unwiderstehliche trockene Komik annehmen: Walter kommt immer zu spät, und Carmen Everts weist bei jeder Gelegenheit auf ihre Dissertation zum politischen Extremismus hin.

Doch auch das wäre nicht mehr als überaus brillanter Journalismus, wenn Zastrow sich nicht so viel Zeit für seine Figuren und ihre Welten nähme. Silke Tesch, die eigentliche Heldin des Buches, eine Handwerkerfrau aus Nordhessen, sozialdemokratisch wie es die SPD der Grumbachs und Walters sonst nirgendwo mehr ist, hat als Volksschulkind einen schweren Unfall erlitten, bei dem sie ein Bein verlor.

Die Geschichte dieses Kinderschreckens ist so großartig, dass man neunzig Prozent der in Hildesheim produzierten Literatur darüber gern den Staubmilben überlässt. Kein Detail hat dieser unendlich akribische Rechercheur sich entgehen lassen, um aus lauter wahren Einzelheiten ein poetisches Bild zu machen.

So sah der Lastwagen aus, der das Kind Silke Tesch bei einer nicht einsehbaren Kurve von der Brücke in den Dorfbach schleuderte: "Es war ein Dreiachser der Firma Krupp, am Kühlergrill seiner weit vorgewölbten Haube prangten drei Ringe, die ursprünglich einmal Eisenbahnräder symbolisiert hatten: Diese Erfindung, der nahtlose Radreifen, hatte Krupps märchenhaften Reichtum begründet. (...) In jenen Jahren mussten die schweren Dieselmaschinen der Laster noch geduldig vorgeglüht werden, und wenn sie dann, laut nagelnd und polternd, endlich in Gang kamen, rüttelten und schüttelten sie so, dass die breiten Bleche über den Vorderrädern mit ihren Peilstäben, an deren Spitzen Kugeln wie aus Elfenbein steckten, stürmisch schwankten."

Und nun wird das Gefährt mythisch: "Die Wagen hatten Gesichter wie Gottheiten von Bären oder Hunden, mit gewaltigen, vorstehenden Schnauzen, doch bei diesem war die Schnauze stumpf, gleich einer Bulldogge oder einem Boxer. Der Krupp K 340 F war ein brandneues Fahrzeug und gehörte zum technisch Besten, was es damals gab."

Das Deutschland, das dabei wie beiläufig entsteht, zeigt eine entfernte Ähnlichkeit zu den Wanderbildern Wolfgang Büschers, es wird in Zastrows geduldig forschem Kinderaugenblick auch zu einem Märchenwald alter Geschichten.

Doch Zastrow ist viel unversöhnlicher. So ist ihm die Kaspar-Hauser-Geschichte einen Exkurs wert, weil sie ein frühes Beispiel von gigantischem, sentimentalem Medienschwindel darstellt, also ein Motiv der Haupthandlung aufnimmt. Deutschen Schrecken zeigt die Übergabe von Regensburg (wohin sich "die Vier" nach ihrer Pressekonferenz fluchtartig zurückzogen), bei der 1945 ein Geistlicher als Saboteur von den Nazis gehenkt wurde, während der Bischof im Keller wartete, bis die Amerikaner da waren.

Solche Geschichten - dazu zählt die stolze politische Ahnenreihe der Darmstädter Familie Metzger, in die Dagmar eingeheiratet hatte - geben dem Tagesstoff eine historische Dringlichkeit, die eigentlich zur Demokratie immer gehören sollte.

Dagmar Metzger, Schwiegerenkeltochter eines geschworenen Nazi-Feindes, der nach dem Krieg doch den Mut hatte, als Darmstädter Oberbürgermeister Thomas Mann seine selbstgerechten Kriegsreden vorzuhalten, sie hatte Tausenden Wählern bei ihrem Haustürwahlkampf persönlich in die Hand versprochen, nicht mit der Linkspartei zu koalieren. Hätte sie sich mit Ypsilantis Satz "Wortbruch hat viele Facetten" zufriedengeben sollen?

Wer den Haustürwahlkampf Metzgers mit Zastrows Augen gesehen hat, kann diese Anmutung nur irrsinnig finden.

Das ist beeindruckend, vor allem komisch aber ist, wie der flotte Jürgen Walter über seine Ypsilanti-Verachtung stolpert. Das langwierige Prozedere, die Stimmung der SPD-Basis vor der Wahl des hessischen Spitzenkandidaten in Regionalkonferenzen zu erkunden, eigentlich als Zeitgewinn gedacht, wird Ypsilantis Straße zum Sieg: "Er (Walter) ahnte nicht, wie unglaublich gut es ihr bekommen würde, in elf Wochen 26 Mal dieselbe Rede zu halten."

Ypsilanti nämlich lernt dabei Reden nicht vorzutragen, sondern sie aufzuführen, Arbeit an ihren Manuskripten wird zur Optimierung ihrer Rolle. Der lässige Walter glaubt, sich nicht vorbereiten zu müssen und wird knapp besiegt. Womit ein Hauptmotiv von Zastrows wahrem Roman gelegt ist.

So scharf Zastrows Blick auf Parteiensoziologie, Gruppendynamik und Milieus ist, er reicht weiter und führt auf Quellgründe des Poetischen in seiner Erzählung. Sein Blick für Schwächen und Ängste der Menschen zielt ins Naturgeschichtliche, wo der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, von fern klingt die Erbsünde, ein Dostojewski-Ton an, und so unbeweisbar die Dinge auf dieser letzten Ebene sind, so stark machen sie diese Prosa.

Zastrow hat herausgefunden, dass Roland Koch über seinen Sprecher Dirk Metz bei Silke Tesch sondieren ließ. "Das Gespräch war eines von denen, wie sie in der Politik üblich sind: Dialoge wie unter Wölfen, wo Neugier und Vorsicht so dicht beisammen sitzen wie Nase und Zähne."

© SZ vom 10.08.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: