Hessen-SPD in der Krise:"Desaströses Versagen der SPD"

Andrea Ypsilanti hätte wissen müssen, was in den Köpfen ihrer Abgeordneten los ist. Sie hat es drauf ankommen lassen. Und kann jetzt die Scherben einsammeln.

Thorsten Denkler, Berlin

Dagmar Metzger hat in dieser Pressekonferenz den geringsten Redeanteil. Ihre Position war immer klar. Schon seit März, seit es die ersten Pläne gab, in Hessen ein rot-grünes Bündnis unter Tolerierung der Linkspartei zu schmieden. Sie hat damals ihr Gewissen zum Maßstab gemacht. Ihre Familie habe unter der SED-Herrschaft gelitten, sagte sie damals. Darum ginge das nicht.

Hessen-SPD in der Krise: Viel gewagt und verloren: Andrea Ypsilanti

Viel gewagt und verloren: Andrea Ypsilanti

(Foto: Foto: ddp)

Spät, sehr spät haben sich ihr jetzt drei weitere Landtagsabgeordnete angeschlossen - die heute bedauern, nicht im März schon den Mut gehabt zu haben, sich auf Metzgers Seite zu stellen: Parteivize Jürgen Walter, außerdem Silke Tesch, die Sprecherin der SPD-Rechten in Hessen, und Carmen Everts.

Am Wochenende noch hatte die Partei mit 95 Prozent Zustimmung den Koalitionsvertrag zwischen SPD und Grünen gebilligt. Irgendwann danach muss die drei dann ihr Gewissen gepackt haben. Erst Tesch und Everts, die dann Walter und Metzger dazugerufen haben.

Vom Erfolg in die tiefste Krise

Von Walter immerhin wusste die erstaunte Öffentlichkeit seit seiner Rede vom Samstag, dass er den Koalitionsvertrag nicht unterschrieben hat und ihm auch nicht zustimmen werde. Was wieder Fragen aufwarf, ob Landeschefin Andrea Ypsilanti an diesem Dienstag zur Ministerpräsidentin gewählt werden würde.

Die Fragen haben sich erübrigt. Die Wahl findet nicht statt. Die SPD in Hessen stürzt acht Monate nach ihrem begeisternden Wahlerfolg in ihre tiefste Krise.

In der Bundespartei wird jetzt alles versucht, diese Krise dort zu lassen, wo sie entstanden ist: in Hessen. Parteichef Franz Müntefering schloss praktisch per Dekret aus, dass die Krise irgendeinen Einfluss auf die Wahlkampfplanung der SPD für die kommende Europa- und Bundestagswahl haben werde.

So einfach wird es nicht werden. Müntefering war zwar nie ein Freund der Tolerierungsidee. Aber er weiß auch, dass ein einmal rollender Zug erhebliches Zerstörungspotential entwickeln kann. Zumal wenn sich ihm wie jetzt ein vierköpfiger Rammbock in den Weg stellt.

Im neuen Fünf-Parteien-System ist die SPD möglicherweise auf die Linkspartei als neuen Partner auch in den Westländern angewiesen. Demnächst möglicherweise schon im Saarland. Und danach auch in Thüringen. In beiden Ländern werden die Wahlkämpfe parallel zum Bundestagswahlkampf geführt. Das Scheitern in Hessen macht es nicht leichter, dort neue Wege zu gehen.

Müntefering versucht, die Krise als Resultat von Einzelentscheidungen dreier verirrter Seelen abzutun. Man kann nie wissen, "wann das Gewissen drückt", sagt er. Aber bei allem Verständnis für Gewissensentscheidungen: Diese hier kam dann doch etwas überraschend. Bei Frau Metzger, sagt Müntefering, könne er das noch verstehen. Aber wenn man sein Gewissen erst wenige Stunden vor der Abstimmung "entdeckt", dann sei ihm das "nicht so richtig geheuer". Oder, um es noch deutlicher zu sagen: "Ich finde das nicht glaubwürdig."

Wie auch immer, Ypsilanti muss sich jetzt fragen, was sie mit dem Veto der vier anstellt. Ein rot-grünes Bündnis ist ausgeschlossen. Mit der Koch-CDU will sie nicht, wollen übrigens auch die vier Gewissensentscheider nicht. Und ob sich FDP oder CDU jetzt noch dazu herablassen, der SPD zu einer Regierungsbeteiligung zu verhelfen, ist mehr als fraglich.

Neuwahl ist die einzige Option. Und zugleich auch die mit dem größten Risiko. Bis auf Ypsilanti ist niemand in Sicht, der die SPD in eine solche Wahl führen kann. Ihr Partei-Vize und ewiger Rivale Jürgen Walter hat sich mit dem heutigen Tag selbst für alle Ämter disqualifiziert.

Nach Lage der Dinge kann die SPD die Wahl nur verlieren. Und das hat sie sich vor allem selbst zuzuschreiben. Grünen-Chefin Claudia Roth merkte heute in Berlin an, das Ergebnis des Tages sei einem "desaströsen Versagen der SPD" zuzuschreiben. Es hätte sich ein "Abgrund an Politikunfähigkeit" aufgetan, gepaart mit einem "eklatant fehlenden Einschätzungsvermögen über die Stimmungslage in der SPD".

Das muss sich vor allem Ypsilanti anrechnen lassen. Zwar sind reihenweise Abstimmungen zu ihren Gunsten ausgegangen. Aber offenbar hat sie die Gewissensnöte einzelner Abgeordnete nicht ernst genug genommen. Und die wiederum hat der Mut verlassen, sich rechtzeitig zu offenbaren.

Walter, Tesch und Everts bekannten sogar, in Probeabstimmungen in der Fraktion für Ypsilanti gestimmt zu haben. Was laut Tesch aber ein "Ausdruck der inneren Zerrissenheit" gewesen sei.

Diese innere Zerrissenheit der vier wird jetzt für die SPD in Hessen zur Zerreißprobe. Ypsilanti hat eine verloren geglaubte Landtagswahl gewonnen. Jetzt muss sie den verlorenen Glauben an die eigene Kraft wiederherstellen und verlorenes Vertrauen wiedergewinnen.

Denn im Raum steht noch etwas, das hat Müntefering in Berlin noch mal deutlich gemacht: Sie war es, die versprochen hat, niemals mit der Linken gemeinsame Sache zu machen und es dennoch versucht hat.

Ypsilanti hat das immer damit begründet, dass sie auch versprochen habe, Koch abzulösen. Jetzt werden wohl die Wähler entscheiden müssen, welches der beiden Versprechen ihnen wichtiger war.

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