Henry Kissinger über Hans-Dietrich Genscher:"Politik betrieb er nicht wie ein Untertan Amerikas"

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Der ehemalige US-Außenminister Kissinger beschreibt, wie Genscher Diplomatie betrieb: vertrauensvoll und mit einem Hang zur Eigenständigkeit. Er und andere Minister gaben dem Deutschen ein Versprechen - und mussten wider Erwarten nach Ostdeutschland reisen.

Henry Kissinger, 1923 im fränkischen Fürth geboren, floh als deutscher Jude vor den Nazis in die USA und wurde Amerikaner. Der republikanische Politiker vertrat während des Kalten Krieges eine harte Realpolitik und ermöglichte auf der anderen Seite auch Entspannungspolitik wie die Ostpolitik der sozialliberalen Bundesregierung. Von 1969 bis 1973 war Nationaler Sicherheitsberater, von 1973 bis 1977 amerikanischer Außenminister. 1973 erhielt er den Friedensnobelpreis für das Friedensabkommen in Vietnam.

Zwei alte Chefdiplomaten unter sich: Henry Kissinger und Hans-Dietrich Genscher im Jahre 2005 (Foto: Getty Images)

"Es war gleich in seiner ersten Amtswoche, da haben wir uns in Bad Reichenhall getroffen und einen Nachmittag lang über Außenpolitik diskutiert. Wir beschlossen auch, uns regelmäßig zu treffen - und in der Folge gelang es uns meistens, die deutsche und unsere Außenpolitik aufeinander abzustimmen. Ich habe ihn von Anfang an als Mann mit hohen politischen Fähigkeiten und großem Intellekt betrachtet.

Im Umgang mit uns zeigte er bald Unabhängigkeit im Handeln, er betrieb Politik nicht wie ein Untertan Amerikas. Das hat er sehr geschickt gemacht und ohne jede Trübung des guten persönlichen Verhältnisses, das wir bald hatten. Heute betrachte ich ihn als persönlichen Freund.

Ich denke, er hat jeden Außenminister, den er traf, um das Versprechen gebeten, eines Tages mit ihm nach Halle zu reisen, in seine Heimatstadt. Nur lag diese in der DDR und wir sprechen von den siebziger Jahren, als die Vorstellung, nach einer deutschen Wiedervereinigung eine Halle-Reise anzutreten, nicht mehr war als eine Bestrebung.

"Ich war oft bei ihm zu Hause"

Und natürlich haben wir es ihm alle versprochen - schon weil wir dachten, es würde ohnehin niemals geschehen. Aber dann geschah es doch, und er lud mich und Michael Gorbatschow nach Halle ein, und ich bin mit Genscher von Westdeutschland nach Halle geflogen. Der Besuch dort wurde einer der bewegendsten Augenblicke meines politischen Lebens.

Er hat Humor, auch wenn er nicht der Typ war, der mir ständig viele Witze erzählte. Aber er gab unseren Treffen eine sehr persönliche Atmosphäre, ich war oft bei ihm zu Hause - und er bei mir in den USA."

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