Heimkinder:Erziehung mit Spätfolgen

An den Demütigungen und Misshandlungen leiden sie oft ein Leben lang. 800000 Heimkinder gab es bis 1975 in der Bundesrepublik, viele von ihnen wurden gequält. Der Hilfsfonds für sie wird nun aufgestockt.

Von Constanze von Bullion, Berlin

Sie wurden gedemütigt, im Namen Gottes geschlagen, nicht wenige blieben fürs Leben gezeichnet. Um Anerkennung ihres Leids aber mussten Heimkinder lange kämpfen, auch in der alten Bundesrepublik. Denn kirchliche und staatliche Einrichtungen leugneten Misshandlungen über Jahrzehnte. Erst 2012 und nach langem Zögern stellten Bund, Länder und Kirchen 120 Millionen Euro für Opfer westdeutscher Kinderheime zur Verfügung. Angesichts der hohen Zahl Betroffener aber erwies sich die Summe als zu gering. Die Bundesregierung baut den Fonds "Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1949 bis 1975" nun finanziell aus, wie zuvor schon den "Heimkinderfonds Ost". An diesem Mittwoch will das Kabinett eine Aufstockung um 182 Millionen Euro bewilligen.

"Die Mehrheit der Betroffenen begrüßt diese Lösung, auch wenn viele sich ursprünglich eine pauschale Entschädigung gewünscht hatten", sagte der Rechtswissenschaftler Peter Schruth, der die Interessen der ehemaligen Heimkinder West koordiniert. Auch Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) begrüßte die Entscheidung: "Mit der Aufstockung des Fonds wird gewährleistet, dass den Menschen, die als Kinder und Jugendliche zwischen 1949 und 1975 in Heimen der Bundesrepublik Deutschland großes Leid erfahren haben, geholfen werden kann." Bund, westdeutsche Länder und Kirchen tragen jeweils ein Drittel der Kosten.

Von 1949 bis 1975 lebten bis zu 800 000 Kinder und Jugendliche in Säuglings-, Kinder- und Jugendheimen der Bundesrepublik. Heimerziehung, die oft als Bestrafung für Fehlverhalten missverstanden wurde, war von stark autoritären Strukturen geprägt. "Es war ein grausames System mit Normen und Regeln, das die Betreiber der Heime zu verantworten hatten: ein System, in dem Gewalt Methode hatte", sagte der Berliner Erziehungswissenschaftler Manfred Kappeler, der beim "Runden Tisch Heimerziehung" des Bundestags gehört wurde. Für viele Opfer mündeten Demütigungen in schwierige Lebensläufe. Der Fonds soll diese Spätfolgen abmildern.

"Bei den Leistungen handelt es sich nicht um Entschädigungen für das seinerzeit erlittene Unrecht, sondern sie dienen der Minderung heute noch vorhandener Folgeschäden", sagte eine Sprecherin des Familienministeriums. Bis zu 10 000 Euro an Sachleistungen können pro Opfer bewilligt werden, für Therapien, Urlaube oder altersgerechte Wohnungsausstattung. Wer im Heim ohne Sozialversicherung arbeiten musste, erhält zudem eine Rentenersatzleistung von 300 Euro pro Arbeitsmonat.

Von 800 000 Heimkindern haben sich bisher nur etwa 20 000 gemeldet

Diese finanzielle Anerkennung wird von den meisten Betroffenen begrüßt. Viele kritisieren aber zu viel Bürokratie. Jeder Betroffene muss begründen, inwiefern ihm die frühere Heimerziehung heute körperliches oder seelisches Leid verursacht. "Dass man von den Betroffenen verlangt, eine Kausalkette vom Heim bis heute herzustellen, grenzt ans Wahnhafte", sagte Heimkinderkoordinator Peter Schruth. Nötig sei eine niederschwellige Prüfung. "Es wäre auch hilfreich, wenn sich ein öffentlicher Repräsentant dazu äußern würde."

Immer noch schämen sich viele, Heimkind gewesen zu sein. Von den 800 000 Heimkindern haben sich bis Ende 2014 nur 20 000 gemeldet. 12 617 von ihnen wurden 157 Millionen Euro zugesprochen, aber nur 101 Millionen Euro ausgezahlt. Die Bearbeitung verzögert sich laut Familienministerium derzeit um etwa neun Monate.

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