Hauptstadt:Als die Musik nach Berlin umzog

Vor 25 Jahren stimmte der Deutsche Bundestag für Berlin als neuen Sitz von Parlament und Regierung. Die Berliner Republik blieb aber die Republik des Bonner Grundgesetzes.

Von Heribert Prantl

Heute ist das alles so selbstverständlich: Die Musik spielt jetzt dort, der Sitz von Parlament und Regierung liegt an der Spree und die Nachrichtensendungen beginnen mit der Ortsmarke "Berlin". Aber damals, vor 25 Jahren, war gar nichts selbstverständlich. Es hätte auch ganz anders kommen können, noch vier Tage vorher hatte es auch so ausgesehen, als käme es anders. Bei einer Umfrage unter den Bundestagsabgeordneten war deren Mehrheit ganz klar für Bonn: 343 Parlamentarier bekannten sich zu Bonn, nur 267 waren für Berlin.

Hätte der Bundestag dann am 20. Juni 1991 auch so abgestimmt, es wäre aus dem "vorläufigen Sitz der Bundesorgane" deren endgültiger geworden. Und das manchmal arg geschwollene, mittlerweile wieder abgeschwollene Gerede von der "Berliner Republik" hätte es nie gegeben. Der Bonner Oberbürgermeister Hans Daniels war jedenfalls sehr siegessicher damals.

Dann kam der Tag, der sich an diesem Montag zum fünfundzwanzigsten Mal jährt. Es war der Tag der 110 Reden, es war ein langer, ein aufgeregter, ein sehr aufregender Tag. Die Abgeordneten tagten im alten Wasserwerk, weil das Bundestagsgebäude, ein paar Schritte entfernt, gerade komplett umgebaut wurde. Stundenlang wurde gemahnt und gewarnt, die Bonn-Befürworter beschworen die Geschichte und ihre Lehren ebenso wie die Berlin-Befürworter, es ging auch um Föderalismus gegen Zentralismus; Kompromissformeln wurden hin- und hergeschoben, und Heiner Geißler machte noch einen Trennungs-Vorschlag: Regierungssitz Bonn, Parlamentssitz Berlin. Das verfing nicht mehr.

Wiese mit Bäumen vor dem Reichstagsgebäude in Berlin

So sah es aus vor dem Reichstag, bevor der Bundestag nach Berlin zog.

(Foto: Ulli Winkler/imago)

Wer die Reden heute, schön zusammengepackt in einem dicken Taschenbuch, nachliest, der spürt den Hauch der Geschichte kaum noch. Die Argumente waren bekannt, sie reißen einem beim Nachlesen nicht vom Stuhl. Manchmal schmunzelt man nachdenklich: Ein Abgeordneter aus den neuen Bundesländern meinte, es wäre viel gewonnen, wenn der Bundestag die Leidenschaft, mit der er über den Bundessitz streitet, dem Erhalt von Arbeitsplätzen in den neuen Bundesländern gewidmet hätte.

Nur vier Seiten ist die legendäre Rede von Wolfgang Schäuble lang. Es ist keine Rede, die einem auffällt, wenn man sie nur liest. Es ist damit so, wie mit vielen großen Reden: Verschriftlicht spiegeln sie die Kraft nicht mehr, die sie hatten. Das Bundestagsprotokoll vermerkt allerdings alle paar Zeilen: "Beifall" oder "anhaltender Beifall" und am Schluss "lang anhaltender Beifall", und zwar jeweils "bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD und dem Bündnis 90/Grüne". Ein solcher Quer-durch-die Parteien-Beifall ist selten, gleich gar, wenn er nach allen paar Sätzen ausbricht. Man spürt die Energie und die Spannung dieser Rede noch, wenn man sich das kurze Videoband ansieht.

Wolfgang Schäuble

Zehn Minuten: Wolfgang Schäuble plädierte für Berlin als Hauptstadt.

(Foto: Michael Jung/dpa)

Zehn Minuten: Diese zehn Minuten haben Berlin zum Sitz von Bundestag und Bundesregierung gemacht, sie haben das Abstimmungsergebnis entscheidend beeinflusst: 338 Abgeordnete waren schließlich am Abend, kurz vor 22 Uhr, für Berlin, 320 waren für Bonn. Zehn Minuten: Man sieht einen vom Attentat gezeichneten Menschen im Rollstuhl vor dem Pult, schmalgesichtig, ausgezehrt. Die Parlamentarier damals hatten noch den agilen Sportsmann Schäuble im Kopf. Und jetzt! Es war dieses Bild des Jammers, das die rhetorische Wirkung der Rede Schäubles so gesteigert hat. Dass es nicht um einen Wettkampf zwischen zwei Städten gehe, sondern "in Wahrheit um die Zukunft Deutschlands" - das haben auch andere Redner gesagt, so oder so ähnlich formulierten es Willy Brandt, Hans-Jochen Vogel und Helmut Kohl. Aber keine dieser Reden hatte Schäubles Kraft. "Abgeordnete der CDU/CSU erheben sich", heißt es im Protokoll, und "Abg. Willy Brandt (SPD) gratuliert Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU)". Es war dies der Beginn des zweitens politischen Lebens dieses Wolfgang Schäuble. Die Berliner CDU hat ihm diese Rede nicht gedankt. Als Schäuble zehn Jahre, viele Siege und noch mehr Niederlagen später CDU-Bürgermeister in der Hauptstadt werden wollte, hat es diese Partei vorgezogen, einen Herrn namens Steffel zu nominieren. Und als Schäuble 2004 Bundespräsident werden wollte, hat Angela Merkel mit Rücksicht auf die FDP nicht Schäuble, sondern Horst Köhler vorgeschlagen.

Acht Jahre nach der Bonn/Berlin-Abstimmung tagte der Bundestag ein letztes Mal vor dem Umzug am Rhein. Kurz bevor die Abgeordneten die neuen Berliner Gebäude bezogen, in denen sich auch der Reichtum spiegelt, zu dem das Land in einem halben Jahrhundert gekommen ist, hielt Kanzler Helmut Kohl die letzte große Rede im Deutschen Bundestag zu Bonn. Er mahnte zur Bescheidenheit, er warnte vor politischer Selbstgefälligkeit und vor aufplusterndem deutschen Gehabe. Der Sinn seiner Worte war: Umziehen heißt nicht abheben.

Es war Helmut Kohl, der damals fast zornig das Reden von der Berliner Republik verurteilt hat. Er hatte Recht: Verlagert wurde nur die politische Infrastruktur. Der Umzug war kein Staatsgründungsakt. Deutschland blieb und bleibt die Republik des Bonner Grundgesetzes.

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