Hartz-IV-Urteil:Die Arbeitslosen nagen am gordischen Knoten

Das Hartz-IV-Gesetz ist bereits eine legislative Katastrophe. Nun muss Karlsruhe entscheiden, ob es auch eine verfassungswidrige Katastrophe ist.

Heribert Prantl

Hartz-IV-Empfänger haben zwar keine Arbeit, aber trotzdem Erfolg - wenn auch nur bei den Sozialgerichten.

Hartz-IV-Urteil: Eltern brauchen Geld, um ihre Kinder aufziehen zu können. In mancher Hinsicht brauchen Kinder aber sogar mehr Geld - schnell ist mal eine Jacke zerfetzt oder die Hose vom vergangenen Jahr zu klein. Deshalb hat auch das Bundessozialgericht Zweifel.

Eltern brauchen Geld, um ihre Kinder aufziehen zu können. In mancher Hinsicht brauchen Kinder aber sogar mehr Geld - schnell ist mal eine Jacke zerfetzt oder die Hose vom vergangenen Jahr zu klein. Deshalb hat auch das Bundessozialgericht Zweifel.

(Foto: Foto: AP)

Fast die Hälfte ihrer Klagen sind erfolgreich: Klagen gegen Leistungskürzungen; Klagen gegen unverständliche Bewilligungsbescheide; Klagen auf mehr Geld; Klagen gegen die Behörden wegen Untätigkeit; Klagen auf schnelle Hilfe, weil die Heizung abgestellt wurde, weil also die Leute im Kalten sitzen und nun einen Vorschuss oder ein Darlehen brauchen.

Die Gerichte prüfen, sie prüfen sehr penibel, weil bei den Sozialgerichten das Amtsermittlungsprinzip gilt; sie müssen also aufklären, warum beim Arbeitslosen Huber kein Öl mehr im Tank ist; sie müssen aufklären, ob die Wohnung des Hartz-IV-Empfängers Maier wirklich zu groß ist, wie das die Behörde bei der Berechnung der Unterkunftskosten behauptet hat; die Gerichte müssen schließlich auch prüfen, ob der Gast in der Wohnung der Frau Schmidt ihr Lebenspartner ist oder nicht, weil das wichtig ist für die Höhe ihrer staatlichen Leistungen.

Und nun wird das Bundesverfassungsgericht ganz grundsätzlich untersuchen, ob nicht die Kinder prinzipiell zu wenig Geld erhalten. Das Bundessozialgericht hat nämlich soeben die Beträge, die nach Hartz IV für die Kinder von Arbeitslosen bezahlt werden, für so niedrig gehalten, dass das mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz nicht in Einklang zu bringen sei.

Kinder von Arbeitslosen würden vom Staat verfassungswidrig kurzgehalten, meint das Bundessozialgericht. Und das Landessozialgericht Darmstadt hat nicht nur dieses Detail, sondern die Gesamtkonstruktion der Bedarfsbemessung nach Hartz IV für verfassungswidrig gehalten. Das ganze Gesetzespaket liegt daher nun auf dem Tisch des Bundesverfassungsgerichts.

Man braucht keine prophetische Kraft, um zu prognostizieren, dass das Hartz-IV-Gesetz die Prüfung in Karlsruhe nicht unbeschadet überstehen wird. Der Gesetzgeber wird das Gesetz völlig neu durchdenken, neu konstruieren und neu schreiben müssen - im Geist des sozialen Rechtsstaats, also ohne die Kleinlichkeiten, ohne die bürokratischen Schikanen und ohne die Verwaltungexzesse, die das Gesetz heute verlangt.

Auf der nächsten Seite lesen Sie, wie ein Hartz-IV-Bescheid konkret aussieht und wen das komplizierte Gesetz außerdem nährt.

Die Arbeitslosen nagen am gordischen Knoten

Ein Beispiel gefällig? Die Angemessenheit der Kosten der Wohnung eines Arbeitslosen ist nach Gesetzeslage für jede "Bedarfsgemeinschaft" immer wieder individuell zu berechnen; jede Heizkostenabrechnung hat also eine Neuberechnung zur Folge. Wo sind die Anhaltspunkte dafür, was angemessener Wohnraum, angemessene Miete und angemessene Heizkosten sind, auf dass sie der Arbeitslose vom Staat erhalten kann? Heizkosten hängen nicht allein davon ab, wie warm es einer in seiner Wohnung haben will; sie hängen auch ab vom baulichen Zustand des Hauses und der Art der Heizung.

Wenn mit dieser Heizung Warmwasser produziert wird, werden die Kosten dafür, so will es das Gesetz, herausgerechnet und nicht bezahlt, weil Strom und Warmwasser pauschal in den 311 Euro für den Lebensunterhalt des Arbeitslosen enthalten sind. Das Gesetz macht die Sozialrichter auf diese Weise zu Rechnungsbeamten.

Wie gesagt: Schon jetzt hat die Hälfte aller Klagen Erfolg; so eine Quote gibt es in keinem anderen Rechtsgebiet. Das liegt nicht an der Großzügigkeit der Richter, sondern an den einschlägigen Paragraphen und den überforderten Behörden: Das "Gesetz über die Grundsicherung für Arbeitssuchende", so der amtliche Titel des Hartz-IV-Gesetzes, ist eine gesetzgeberische Katastrophe; seit seinem Inkrafttreten 2005 wurde es fast zwei Dutzend Mal geändert. Das hat die Gesetzeslage nicht einfacher gemacht.

Arabische Gebrauchsanweisung für einen iPod

Die Hartz-IV-Bescheide sind kompliziert, noch komplizierter als Steuerbescheide. Der Adressat schaut hinein wie in eine arabische Gebrauchsanweisung für einen iPod. Er geht dann zum Anwalt (den bei Bedürftigen via Prozesskostenhilfe der Staat zahlen muss), der Anwalt versteht aber den Bescheid womöglich auch nicht und reicht daher Klage beim Sozialgericht ein, in der er behauptet: "Der Bescheid ist falsch berechnet. Die Leistungen sind zu niedrig".

Die Wahrscheinlichkeit, dass er recht hat, ist hoch. Der Anwalt braucht gar nicht in die Details zu gehen, weil die Sozialgerichte - die in der Flut der Klagen schier ertrinken - gehalten sind, die Sache von Amts wegen aufzuklären: Die Richter vernehmen also Zeugen, sie prüfen die Causa Schritt für Schritt und sie stellen dann, wie gesagt, sehr häufig fest: Die Leistungen sind wirklich zu niedrig.

Und so nährt Hartz IV nicht nur den Arbeitslosen, sondern auch dessen Anwalt. Die Verfahren laufen zu neunzig Prozent über Prozesskostenhilfe. Der Staat zahlt auf diese Weise für die Folgen seiner gesetzgeberischen Defizite: 500 Euro für den klagenden Anwalt sind es allemal. Dieses Geld wäre bei den Kindern der Arbeitslosen besser aufgehoben.

Jahr für Jahr steigen die Klagen gegen Hartz IV. Die Politik beschwichtigt: Bei neuen Gesetzen komme es am Anfang immer zu einem Anstieg der Eingangszahlen bei den Gerichten; nach der gerichtlichen Klärung der Streitfragen pendle sich das dann aber bald wieder ein.

Diese Prognose ist falsch, die Klagezahlen steigen weiter. Erstens weil das Hartz-IV-Gesetz so kompliziert ist. Zweitens weil sich die Behörden um Urteile der Sozialgerichte wenig scheren. Wenn je ein Gesetz ein gordischer Knoten war: Das Hartz-IV-Gesetz ist einer. Seit der Antike weiß man, was zu tun ist.

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