Hartz IV-Reform:In Karlsruhe gewonnen, in Berlin zerronnen

Die Hartz IV-Bezieher hatten keine Chance, mit Hilfe des Verfassungsgerichts ihre Lebenslage zu verbessern - weil die Politik dessen Vorgaben zur Makulatur werden ließ.

Martin Reucher

Martin Reucher, 55, vertrat vor dem Bundesverfassungsgericht eine der Familien, die gegen Hartz IV klagte. Der Bochumer Anwalt leitete früher Sozialbehörden in Erfurt und Wuppertal.

Regierung wegen Hartz-IV-Plänen in der Kritik

In Karlsruhe haben die Hartz IV-Empfänger gewonnen, in Berlin jedoch verloren, meint Martin Reucher, der Anwalt einiger klagender Hartz-IV-Familien.

(Foto: dpa)

Ein früher Hartz-IV-Bescheid aus dem Jahr 2004, der mir als Rechtsanwalt von einer Dortmunder Familie zur Prüfung vorgelegt wurde, warf die Frage auf, wie der Gesetzgeber eigentlich die Regelsätze für Kinder ermittelt hatte. Die Recherche ergab: überhaupt nicht.

Nachdem die Klage auf höhere Leistungen für einen Sohn der insgesamt fünfköpfigen Familie durch die Instanzen rasch bis zum Bundessozialgericht durchgewunken worden war, hielt dieses die Klärung des Problems durch das Bundesverfassungsgericht für notwendig und legte die Frage nach kindgerechten Leistungen zur Entscheidung vor. Die war eindeutig: Im Februar dieses Jahres urteilten die Karlsruher Richter, der Bedarf für Kinder sei - unter Berücksichtigung von Bildungskosten - nachvollziehbar zu ermitteln. Das Gericht verpflichtete den Gesetzgeber, "ein Verfahren zur realitäts- und bedarfsgerechten Ermittlung der zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums notwendigen Leistungen durchzuführen und dessen Ergebnis im Gesetz als Leistungsanspruch zu verankern".

620 Millionen Euro Menschenwürde

Ein gutes halbes Jahr danach hat ein Expertengremium des Bundesarbeitsministeriums nach Maßgabe seiner politischen Leitung (also der Ministerin Ursula von der Leyen) einen Entwurf für Änderungen am Arbeitslosengeld II vorgelegt, der auch Neuerungen für die Situation der Kinder enthält. Hauptergebnis: eine Erhöhung des Regelsatzes für Erwachsene um fünf Euro (nicht hingegen für Kinder) sowie ein neues Bildungspaket. Dieses Paket, das laut Ministerium nichts weniger als einen "Kulturwechsel" bedeutet, enthält 620 Millionen Euro Menschenwürde für Kinder aller Altersgruppen; wie viel für jedes Kind konkret, das bleibt offen. Gleichzeitig allerdings wurde für Kinder von Geringverdienern das Schulstarter-Paket komplett gestrichen (wie es jetzt heißt: versehentlich).

Mit anderen Worten: Die ursprünglichen prozentualen Abschläge für Kinder vom Regelsatz der Erwachsenen müssen derartige Punktlandungen gewesen sein, dass keine Änderung erforderlich war, weder nach oben noch nach unten. Das ist mehr als verwunderlich.

Zur geplanten Neuregelung merkt CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt denn auch an: "Jetzt passt die Berechnung." Wie verräterisch Sprache doch sein kann. Auch ohne früher selbst Empfänger eines Bildungspakets gewesen zu sein, wird ihm die Schule einst wohl vermittelt haben: Bei Berechnungen sollten die Ergebnisse stimmen, nicht aber die Berechnungen "passend gemacht" werden.

Ist dieses traurige Ergebnis für die Dortmunder Familie die Mühen eines fünfjährigen Weges durch die Instanzen plus die Schmach der öffentlichen Diskriminierung als "Sozialschmarotzer" wert? Wenn ihre Kinder auf diese Weise in den vergangenen fünf Jahren in ihrer Menschenwürde verletzt wurden, wird dies jedenfalls keinen Ausgleich finden. Das Bundesverfassungsgericht hat eine rückwirkende Regelung konkreter Fälle ausgeschlossen, da dies "unvertretbare fiskalische Wirkungen" haben würde. Also zumindest kein bezifferbares Ergebnis für die Kläger.

Binnen Jahresfrist Makulatur

Allerdings haben sie den Rechtsstreit nicht ausschließlich für sich selbst geführt. Sie haben auch Klarheit für andere Betroffene gesucht. In diesem Sinne haben sie erreicht, dass der Gesetzgeber verpflichtet wurde, neu nachzudenken und neue Standards festzulegen. Dies scheint die Politik jedoch für eine unverbindliche Empfehlung oder originelle Idee zu halten, denn die Umsetzung des Karlsruher Urteils wird noch nicht einmal ernsthaft angedacht. Bleibt also die allgemeine Frage: Lässt sich eine Lebenslage mit Hilfe der Justiz verbessern?

Die Politik lässt das Gericht ins Leere laufen

Alltägliche Fragen, zum Beispiel eine fehlerhafte Bewertung der tatsächlichen Verhältnisse durch die Sozialbehörden, werden durch die Sozial- und Landessozialgerichte geklärt. Das führt bei berechtigten Anliegen der Kläger auch zu Verbesserungen der konkreten Situation. Sozialrechtliche Grundfragen wiederum werden durch das Bundessozialgericht beurteilt. Dies gewährleistet bundesweit die Klärung von Problemen und hat gegebenenfalls auch konkrete Verbesserungen zur Folge. Allerdings werden solche Urteile und damit Klage-Erfolge durch beabsichtigte oder auch unfähige Schlenker des Gesetzgebers häufig binnen Jahresfrist zu Makulatur.

Bei verfassungsrechtlichen Fragen stellt sich dieses Problem nicht - was jedoch nicht an der Justiz liegt. Das juristische Ergebnis von Karlsruhe lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Indem die Politik jedoch weder Wertungen der Verfassung umsetzt noch Vorgaben des zu deren Schutz geschaffenen Bundesverfassungsgerichts, bewirkt sie, dass solche Verfahren ins Leere laufen.

Der "Armutsgewöhnungszuschlag"

Politisch sehr elegant wurde darauf hingearbeitet, dass die Fünf-Euro-Frage und insbesondere das werbewirksame Bildungspaket (und damit auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts) intensiv diskutiert werden. Elegant deswegen, weil darüber weitere sehr weit reichende Änderungen übersehen werden: Die Streichung des Elterngeldes ist beabsichtigt. Der sogenannte "Armutsgewöhnungszuschlag" für ehemals Besserverdienende, ohnehin nur eine magere Ersatzkost, soll ebenfalls entfallen. Der Rentenbeitrag für Hartz-IV-Betroffene von rund 40 Euro wird entfallen - was eine weitere künftige Belastung der Rentenkassen bedeutet. Die regelmäßige Anpassung der Regelsätze für Kinder wird vorläufig ausgesetzt, anders als nun bei den Erwachsenen.

Die sogenannten etablierten Parteien sind für Hartz-IV-Betroffene mittlerweile schwer wählbar, weil sie entweder Hartz IV geschaffen oder fortgeführt haben. Die Zahl der Nichtwähler steigt rapide. Aber auch Nichtwähler können plötzlich wieder wählen. Ein Blick nach den Niederlanden oder Schweden lässt in dieser Hinsicht Böses ahnen, ein Blick auf die Geschichte grausen. Das Bundesverfassungsgericht hatte der Politik eine klare, eindeutige Aufgabe gegeben. Die Politik wollte oder konnte sie nicht erfüllen. Was schlimmer wäre - gewollter Rechtsbruch oder schlichte Unfähigkeit -, das mag jeder selbst entscheiden. Dabei müsste sich ein Rechtsstaat als wehrhafter Staat zeigen. Auch und gerade gegen die Aushöhlung durch diejenigen, die ihn eigentlich verwalten und schützen sollten.

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