Hans-Dietrich Genscher:Wort gehalten

Hans Dietrich Genscher

Hans-Dietrich Genscher: Seine Amtsführung, sein Stil bis hin zu seiner Art zu reden, formte eine Generation deutscher Diplomaten

(Foto: AP)

Hans-Dietrich Genschers Außenpolitik war eine unendliche Reise ins Machbare. Durch seine Hartnäckigkeit bewegte er in der erstarrten Atmosphäre des Kalten Krieges mehr als laute Kollegen.

Kommentar von Kurt Kister

Mit einer kleinen Unterbrechung im Herbst 1982 war Hans-Dietrich Genscher fast zwanzig Jahre lang, von 1974 bis 1992, Außenminister der Bundesrepublik. Dies sagt einerseits etwas aus über den Menschen und Politiker Genscher. Er verkörperte nahezu idealtypisch ein Amt, in dem Routine, im besten, also in Genschers Falle, unterfüttert durch Kompetenz, immer mehr zählte als Originalität. Nachdem Genscher seine Sozialisation im Auswärtigen Amt hinter sich gebracht hatte, sozialisierte er das Ministerium nach seinem Bilde.

Genschers Amtsführung, sein Stil bis hin zu seiner Art zu reden, formte eine Generation deutscher Diplomaten. Noch heute trifft man in Berlin und anderswo dienstreifere Damen und Herren des diplomatischen Corps, die im Grunde ihrer professionellen Seele Genscheristinnen und Genscheristen geblieben sind. Seine Persönlichkeit, die entscheidend mit seiner politischen Langlebigkeit zu tun hatte, war so, dass kein anderer deutscher Minister sein Ministerium und dessen Angehörige so sehr und so nachhaltig geprägt hat wie Hans-Dietrich Genscher.

Symbol für die Berechenbarkeit der Verhältnisse

Andererseits war der Außenminister Hans-Dietrich Genscher aber auch ein Symbol für die Berechenbarkeit der Verhältnisse, national wie international. Genscher, der trotz Scheel, Lambsdorff und Möllemann stets der Herr FDP blieb, fungierte zwischen 1969 bis zu seinem Rückzug 1992 als Minister in jeder Regierung, die es in diesem Zeitraum in Bonn gab. Es waren jene westdeutschen Jahrzehnte, in denen die Volksparteien CDU/CSU und SPD jeweils so stark waren, dass ihnen zum Regieren eine kleine Koalitionspartei reichte. Diese kleine Partei war die FDP. Ihre Funktion als berufsmäßiger Koalitionspartner war Teil der raison d'être dieser Partei.

Kein anderer in der FDP verstand es so gut wie Genscher mit so unterschiedlichen Kanzlern wie Brandt, Schmidt und Kohl auszukommen - jedenfalls so lange auszukommen, bis sich die Machtperspektive des jeweiligen Kanzlers erschöpft hatte. Im Falle Schmidt trug Genscher zu dessen Sturz bei. Und den Kanzler Kohl rettete mutmaßlich die politische Zeitenwende von 1989/90 vor Schmidts Schicksal, zuerst von seiner Partei und dann von Genschers FDP verlassen zu werden.

Genschers Hartnäckigkeit bewegte mehr als seine lauten Kollegen

Auch in der Außenpolitik bestand in der längsten Zeit von Genschers Wirken zumindest für Deutschland grundsätzliche Stabilität. Die Bundesrepublik bewegte sich als Mitglied von Nato und EG innerhalb relativ enger Grenzen; ihre Souveränität war eingeschränkt. Die Lage in Europa und in großen Teilen der Welt war durch den Ost-West-Konflikt geprägt, dessen Ende bis hinein in die Achtzigerjahre nicht absehbar war.

In Europa galt Annäherung als das maximal Erreichbare; außerhalb Europas wurden Stellvertreterkriege geführt. Zur Annäherung gehörten eine Vielzahl von Gremien und überstaatlichen Foren, in und auf denen Genscher, ein Meister des vorsichtigen, manchmal kryptischen Wortes, trefflich agierte.

Genschers Außenpolitik waren unendliche Reisen ins Machbare. Der Pragmatiker nahm sich nie zu viel vor und bewegte durch seine Hartnäckigkeit in der oft erstarrten Atmosphäre des Kalten Krieges mehr als dies fast alle seiner lauten Kollegen getan haben. Die späte Belohnung für die Jahre wenn nicht des Leisetretens, so doch des Leisesprechens, war der Abend des 30. September 1989, an dem Genscher vom Balkon der deutschen Botschaft in Prag aus den "lieben Landsleuten" aus der DDR die Freiheit verkündete. Jenseits all seiner anderen Verdienste sichert allein dieser Auftritt Hans-Dietrich Genscher einen verdienten Platz in den Geschichtsbüchern.

Zu Beginn der neuen Unübersichtlichkeit gelangte der Stabilitätspolitiker Genscher dann ans Ende seiner Möglichkeiten. Die Kriege im ehemaligen Jugoslawien waren nach dem Zusammenbruch der alten West-Ost-Ordnung die ersten blutigen Vorboten jener Zeit, in der Sprengstoffgürtel tragende Fanatiker die Außenpolitik mehr beeinflussen als manche Staaten oder zwischenstaatliche Organisationen. Genschers frühe Anerkennung von Slowenien und Kroatien hat ihm dort ewige Dankbarkeit gesichert; dennoch trugen diese Schritte wohl zur Eskalation des Kriegs auf dem Balkan bei. Auch die Ohnmacht Europas in diesem Krieg war ein schales Echo aus jenen Zeiten, in denen eine KSZE-Resolution das ultimative Mittel der Außenpolitik zu sein schien.

Hans-Dietrich Genscher gehört zu jenen wenigen westdeutschen Politikern, die nicht nur die Entspannungspolitik mitgeformt, sondern auch die Grundlagen für die deutsche Vereinigung gelegt haben. Der gebürtige Sachse hat Wort gehalten gegenüber seinen Landsleuten in Ost und West, nicht nur an jenem Prager Abend.

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