Haiti nach dem Erdbeben:Der Abfall stinkt mehr als der Tod

Hundert Tage nach dem Erdbeben konzentriert sich Haiti auf den Wiederaufbau - noch immer finden sich Leichen im Schutt.

Peter Burghardt, Port-au-Prince

Auch eine kleine Flamme kann gefährlich sein in der Stadt der Plastikplanen, 100 Tage nach dem schlimmsten Beben Amerikas. Deshalb liegt die kleine Senella Simeon im Feldlazarett des Roten Kreuzes von Carrefour bei Port-au-Prince, eingepackt in Verbände. Das Haus der Familie stürzte ein, als am 12. Januar die Erdstöße der Stärke 7,2 Haiti verwüsteten, der Vorort liegt nahe am Epizentrum.

Haiti, Port au Prince, AFP

Haitis Kinder müssen noch immer in UN-Zelten unterrichtet werden, weil die Schulen noch nicht aufgebaut sind.

(Foto: Foto: AFP)

Die junge Mama Josena Bien-Aime zog mit der Großmutter, dem Säugling und anderen Kindern in ein Zelt auf die Straße. Abends fiel kürzlich eine Kerze um, das einzige Licht, als Letzte entkam die einjährige Senella dem Feuer. Die Flammen und schmelzender Kunststoff versengten Arme, Beine, Kopf. Jetzt wird sie in einem weißen Zelt von Ärzten versorgt und von der Oma mit Brei gefüttert und wartet auf eine Reise zu Spezialisten in die USA.

Mit der Betreuung hat Senella immerhin Glück im Pech, ihrer Heimat bleibt ja kaum ein Desaster erspart. Das Rote Kreuz unternimmt seit der Tragödie, die 230.000 Tote forderte, die größte Hilfsaktion seit dem Zweiten Weltkrieg, die Behelfsklinik in einem Stadion wurde zur modernsten Krankenstation der Umgebung.

Eine Insel in der modrigen Peripherie, mit Operationszelt und Röntgenapparat, geführt von Deutschen, Finnen, Schweden, Peruanern. Viele Patienten wollen gar nicht mehr weg, so aufgeräumt wie hinter den Toren finden sie es an den Müllhaufen draußen kaum.

Oft müsse man die Leute nach der Behandlung freundlich hinauswerfen, sagt Chirurg und Manager Johannes Schad. Bald soll die Anlage unter Dächer ziehen, denn schon droht das nächste Unheil, obwohl die sogenannte Notfallphase nach drei Monaten vorbei ist.

Am Himmel stauen sich graue Wolken zwischen den spärlich bewachsenen Bergen, eine verhängnisvolle Kombination. Am Sonntag goss es vier Stunden lang, das Wasser stand schnell bis zu den Knöcheln. Danach wurde es wieder trocken bis staubig, aber wenn in Kürze die Regenzeit mit ihren Sintfluten anbricht, dann wird der Lehm zu Schlamm, und Kloaken schwellen zu stinkenden Strömen.

Danach steht die Hurrikan-Saison an, nächste Etappe des haitianischen Horrorkalenders. Kaum auszudenken, was das für all die Obdachlosen bedeutet. In Port-au-Prince hausen Hunderttausende auf Plätzen wie dem Champs Mars am zusammengekrachten Präsidentenpalast mit den Caterpillars und dem UN-Panzerwagen im Garten.

Drunten in Delmas hat sich der universitätslose Student Eugene Damis mit Eltern und acht Geschwistern ebenfalls in ein Zelt geflüchtet, und wenn es regnet, dann schläft er in einem kaputten Auto. Viele Wohnungen wären zwar theoretisch bewohnbar, aber vor Mauern haben die Leute Panik. Zumal Experten und Staatschef René Préval vor weiteren Erschütterungen warnen. Außerdem regiert Préval selbst in einem Zelt, und den wenigsten Landsleuten ist klar, ob nun er oder die UN oder die USA das Sagen haben. Den notdürftig reparierten Flughafen leiten wieder die Hausherren, doch das Volk ist verwirrt.

Damis, 36, hat von den elf US-Milliarden für Haiti gehört und von internationalen Konferenzen und würde gerne wissen, wofür das Geld ausgegeben wird. Zudem kamen außer Kompanien von Helfern zuletzt wieder reihenweise Stars vorbei von Michelle Obama bis Shakira, Sean Penn leitet sogar ein Flüchtlingslager.

Geschichten von Trauer und Hoffnung

"Nou Bouke", steht auf Mauern, wir sind müde. "Je croix en Dieu", ich glaube an Gott, steht auf Tap Taps, bunten Sammeltaxen. Andere glauben an den gestürzten Prediger Jean-Baptiste Aristide. Angeblich bewaffnen sich dessen Milizen im Slum Cité Soleil, aber es gibt viele Gerüchte.

Bislang sind keine Unruhen zu spüren und im demolierten Zentrum seltsam wenige Polizisten und UN-Blauhelme zu sehen. "Manchmal denkt man, gleich bricht das Chaos aus", sagt Katharina Ehrmann vom Roten Kreuz, "und manchmal denkt man, dass der Wiederaufbau die Chance für Haiti ist." Wie viele Ausländer bewundert sie die Freundlichkeit und Widerstandskraft der Haitianer. Es wird gelacht, Frauen tragen trotz aller Engpässe oft bunte, schöne Kleidung. "Ich weiß nicht, wie wir leben", sagt Eugene Damis. Aber es geht weiter, nicht für alle schlechter als zuvor.

Läden und Banken sind längst wieder offen, zu den Gewinnern dürfte die Handyfirma Digecel zählen. An vielen Ecken treffen sich Fußballfreunde zum Freiluftfernsehen, Inter gegen Barcelona, Lyon gegen Bayern.

An den Straßen werden Früchte verkauft, Jeans, Reifen, Lose, teuer zu kaufen wäre fast alles. Benzin wurde erneut knapp. "Für die Größe der Katastrophe ist die Nothilfe gut angelaufen", sagt Michael Kühn von der Welthungerhilfe. "Kümmerlich waren die Bedingungen schon vorher. Man kann hier nicht fragen, wieso die U-Bahn nicht wieder fährt, hier gab es keine U-Bahn. Und auch Ground Zero in New York wurde nicht in 100 Tagen aufgebaut."

Jeder hat Verwandte und Freunde verloren

Scharen von Einheimischen tragen gelbe T-Shirts und hämmern für Mindestlöhne auf kaputte Gebäude ein. "Cash for work" nennt sich das, zumindest der Abbau hat begonnen. Der Schutt wächst zu Bergen, wenn auch vereinzelt und ohne erkennbares System.

An den meisten Ruinen ist nichts passiert. Der Abfall stinkt unterdessen mehr als der Tod, im Geröll dürften noch viele Leichen liegen, trotz der vollen Friedhöfe und Massengräber. Jeder hat Verwandte und Freunde verloren. Jeder kennt Geschichten von Trauer und Hoffnung.

Die Frau eines haitianischen Rotkreuzfahrers gebar ihr Kind am 12. Januar, kurz danach brach das Hospital ein. Das Baby starb drei Tage später. Die kleine Senella Simeon aus der Klinik von Carrefour dagegen lebt. Sie soll nach bürokratischem Kampf jetzt zur plastischen Chirurgie nach Boston geflogen werden. Ihre Mutter ist wieder schwanger.

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