Grüne:Poltern mit Publikum

Winfried Kretschmann schimpft vor versteckter Kamera - ausgerechnet auf die Grünen. Ein rechter Blogger stellt das Video online. Jetzt wiegelt die Partei ab.

Von Stefan Braun und Josef Kelnberger, Berlin/Stuttgart

"Oh nein, nicht schon wieder der Winfried!" Den Ausruf konnte man am Freitag unter Berliner Grünen häufig hören. Da hatten sie am vergangenen Wochenende endlich einen ziemlich einigenden Parteitag ziemlich geschlossen hinter sich gebracht - und boing!, nur wenige Tage später droht das schöne Gebilde in sich zusammenzubrechen. Dieses Mal ist es eine Wutrede des Ministerpräsidenten aus dem Südwesten. Und die tut deshalb weh, weil sie offenbar heimlich aufgenommen wurde und das Signal der Geschlossenheit als - gelinde gesagt - halbe Wahrheit entlarvt hat.

Nun fragen sich alle, wie das passieren konnte. Eben gerade, weil alle wissen, wie schwer es die Partei hat, nach Monaten mit schlechten Umfragewerten wieder auf die Beine zu kommen. Um die Antwort kurz zu machen: Es trafen sich zwei Kumpels, und sie bemerkten eigenen Angaben zufolge nicht, dass ein dritter eine Kamera dabeihatte.

Ministerpräsident Winfried Kretschmann und der Bundestagsabgeordnete Matthias Gastel sind langjährige Vertraute, sie stammen beide aus dem grünen Kreisverband Esslingen. Beim Bundesparteitag im Berliner Velodrom kamen sie vergangenen Samstag nebeneinander zu sitzen. Nach der Begrüßung ging es schnell um ein häufig wiederkehrendes Thema: Dass nach Kretschmanns Meinung die baden-württembergischen Bundestagsabgeordneten ihren Einfluss in Berlin nicht energisch genug geltend machen. So komme es zu Festlegungen wie dem Abschied von Verbrennungsmotoren im Jahr 2030, den die Grünen in ihrem Programm zur Bundestagswahl im Herbst fordern. Kretschmann redete sich in Rage, Gastel hörte zu.

Winfried Kretschmann

Winfried Kretschmann: "Lasst mich in Ruhe".

(Foto: Bernd Thissen/dpa)

Kretschmann schimpft dabei gewaltig, beklagt "Schwachsinnstermine" und fragt: "Wie kann man denn so ein Zeug verzapfen?" Schließlich sagt er seinem alten Kumpel: "Macht es. Das ist mir egal. Dann seid aber mit sechs Prozent oder acht einfach zufrieden. Dann jammert nicht rum und lasst mich in Ruhe und macht euren Wahlkampf selber."

Der Auftritt wurde von einem rechten Blog auf Youtube veröffentlicht. Und nun heißt es aus dem Staatsministerium, dass Kretschmann völlig unabhängig von dem umstrittenen Video mit dem Wahlprogramm als Paket sehr zufrieden sei und sich deshalb wie angekündigt mit aller Kraft in den Wahlkampf stürzen werde. Regierungssprecher Rudi Hoogvliet erklärt überdies, es habe sich erkennbar um ein privates Gespräch gehandelt, bei dem man nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen dürfe. Hoogvliet spricht von einer "eklatanten Verletzung der Privatsphäre", einem "Lauschangriff", der "sittenwidrig" sei. Trotzdem sehe man von rechtlichen Schritten ab, auch um den Betreibern der Internetseite nicht noch mehr Öffentlichkeit zu verschaffen. Ruhig und gelassen soll das klingen und zu gleichlautenden Erklärungen passen, die aus der Berliner Parteizentrale verbreitet werden. Die Botschaft: Blöde Geschichte, nix passiert. "Wir freuen uns", betont Spitzenkandidat Cem Özdemir, "dass Winfried Kretschmann mit uns gemeinsam einen engagierten Wahlkampf machen wird."

Ob das ausreicht? Schwer zu sagen. Richtig ist, dass der Neuigkeitswert des Videos in der Sache gering ist. Vor und während des Parteitags und auch am Dienstag dieser Woche in Stuttgart hat Kretschmann - fast wortgleich wie im Video - erklärt, warum er es für fragwürdig hält, wenn die Politik Ausstiegstermine setzt. Sie müsse erst die Voraussetzungen für den Wandel zur E-Mobilität schaffen, vor allem die Lade-Infrastruktur, und auch die Arbeitsplätze im Blick haben. Den "Ausstieg 2030" interpretiert er als "Weckruf" an die Autoindustrie. Unter der Überschrift könne er das Datum mittragen.

Der Ton übrigens, den Kretschmann anschlägt, ist für Leute, die ihn kennen, auch nicht neu. Er poltert gern nach dem Motto: Macht euer Zeug alleine. Jetzt liegt es an ihm, das Zeug wieder in grüne Bahnen zu lenken.

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