Grüne:Entschlossen ins Ungewisse

Die Grünen starten einen Programmprozess - das ist mutig und nötig, denn das alte Programm entstammt noch der Zeit der fundamentalen Selbstgewissheit. Es ist gut, die alten Wagenburgen zu verlassen. Die alte Renitenz sollte dabei aber nicht verloren gehen.

Von Constanze von Bullion

Achtundzwanzig Fragezeichen gibt es im "Impulspapier", mit dem die Vorsitzenden der Grünen ihre Partei ins nächste Lebensalter führen wollen. Das sagt eigentlich schon alles über diesen Aufbruch, der entschlossen daherkommt, aber ins Ungewisse führt. Die Grünen wollen ein neues Grundsatzprogramm; an diesem Wochenende beginnt in Berlin ein Pfadfinderprozess zu einem zeitgemäßen Weltbild. Bis zu ihrem 40. Geburtstag in zwei Jahren will die Partei herausfinden, wie Ökologie mit Technik zu versöhnen ist, Digitalisierung mit Gerechtigkeit und urgrüne Selbstgewissheit mit der Erkenntnis, dass nichts so bleiben kann, wie es war, wenn es nicht vor die Hunde gehen soll.

Dass die Grünen nach der Jamaika-Pleite das Jammern einstellen und den inhaltlichen Neustart anpacken, ist höchste Zeit. Ihr Programm atmet noch den Geist rot-grüner Regierungsjahre, in denen die Partei gegen den Castor und Schokoriegel kämpfte, die Rundum-Digitalisierung unbekannt war und viele hinter dem Wort Trojaner noch Helden einer griechischen Sage vermuteten.

"Neue Zeiten. Neue Antworten" haben die frisch gewählten grünen Parteichefs ihren Aufbruch überschrieben. Er ist noch nicht viel mehr als eine Aufforderung zu streiten, dürfte andere Parteien aber schmerzhaft daran erinnern, dass ihnen Ähnliches noch bevorsteht. Die SPD hat die Selbsterneuerung zwar versprochen, regierungshalber aber vertagt. CDU und CSU, deren Gesellschaftsbild mit den Zeiten nicht mehr Schritt hält, drücken sich seit Jahren um eine Neupositionierung. Und in der Linken, wo die Leute sich in Kernfragen wie der Migration spinnefeind sind, wagt man die offene Debatte gar nicht erst.

Anlass zur Selbstgefälligkeit haben aber auch die Grünen nicht. Wenn nicht nur gequasselt wird, ist der Erneuerungsprozess eine Operation am offenen Herzen. Er rührt an die Identität der Partei. Denn die neuen Parteivorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck wollen aufräumen mit vermeintlich ewigen Wahrheiten in ihrer Gefolgschaft.

Raus aus den Wagenburgen - das tut den Grünen gut. Die Renitenz sollten sie aber nicht vergessen

Gentechnik ist böse, ist so eine grüne Wahrheit. Was aber, so fragen Baerbock und Habeck, wenn moderne Gentechnik das Versalzen der Böden bremst? Freiheit ist schön und allzu viel staatliche Regulierung für die Grünen Mist. Was aber wird aus denen, deren Arbeit bald Algorithmen verrichten? Ein "ungezügelter" Kapitalismus mache sich in der digitalisierten Gegenwart breit, schreiben die Grünen-Chefs. Hoppla - das klingt ja fast wie in K-Gruppen vorgrüner Zeit und zielt auf flüchtige SPD-Wähler.

Raus aus den Wagenburgen ist da die Devise. Für Überzeugungstäter wie die Grünen ist das mutig. Es reicht aber nicht, weniger dogmatisch zu werden und im Ton weicher. Denn unverwechselbar wurden die Grünen immer auch durch Renitenz. Die aber fehlt jetzt. Vor lauter Begeisterung über das eigene Erwachsenwerden haben die Parteichefs in ihrem Papier Querköpfigkeiten vergessen, Zukunftsvisionen, auch die Gleichstellung der Frau. Alles alter Mist? Oder hat Habeck das Papier allein verfasst?

Selbsterneuerung ist schön, wenn sie von innen kommt und es nicht bei oberflächlicher Schönheitschirurgie bleibt. Aber hier wie da gilt die Regel: Man sollte sich hinterher noch erkennen können.

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