Streit um Stuttgart 21:Nach dem Triumph ist vor dem Krach

Die S21-Gegner feierten den grün-roten Wahlsieg in Baden-Württemberg wie eine Erlösung, doch der Bau des Tiefbahnhofs ist mit der Abwahl von Stefan Mappus und der CDU keineswegs sofort erledigt. Grüne und SPD wollen eine Volksabstimmung, doch der Weg dahin ist lang. Und die Koalitionspartner werden gegeneinander Wahlkampf führen.

Michael König, Stuttgart

Am Abend ihres größten Triumphes feierten die Grünen sogar einen erklärten Stuttgart-21-Befürworter frenetisch. Um 22:35 Uhr bahnte sich SPD-Spitzenkandidat Nils Schmid seinen Weg durch die Menge auf der Wahlparty der Grünen im Stuttgarter Kunstgebäude, gemeinsam mit dem designierten Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann erklomm er die Bühne. Der Jubel war ohrenbetäubend. "Winfried, Winfried", "Nils, Nils" und "Oben bleiben, oben bleiben" - die Sprechchöre gingen minutenlang wild durcheinander.

Die Widersprüchlichkeit war an diesem Abend egal. Dass dürfte sich bald ändern. Die SPD ist grundsätzlich für Stuttgart 21. Die überwältigende Mehrheit der Grünen in Baden-Württemberg ist dagegen. Obwohl sich Kretschmann und Schmid einig sind, das Volk zu befragen, ist der erste Koalitionskrach programmiert. Denn der politische Weg zu einer Abstimmung ist lang und mühsam - während die Stimmung auf der Straße wieder an Sprengkraft gewonnen hat.

Die Wahlnacht hat das eindrucksvoll bewiesen: Mehrere tausend Menschen feierten auf dem Stuttgarter Schlossplatz bis spät in die Nacht den Sturz von Ministerpräsident Stefan Mappus und ihren Sieg über S21. "Wir haben lange gekämpft, jetzt empfinde ich eine echte Genugtuung", sagte ein Frau mit antiker Lokführermütze, bevor sie einen Sektkorken in den Stuttgarter Nachthimmel schoss. Wenige Meter weiter zündeten Partygäste Feuerwerkskörper, andere tanzten ausgelassen zu Trommelrhythmen.

Einigen hundert S21-Gegnern war das Feiern jedoch nicht genug. Sie zogen zum Hauptbahnhof und warfen den Sperrzaun rund um den abgesperrten Kurt-Georg-Kiesinger-Platz um. Dort soll ein unterirdisches Technikgebäude für den neuen Bahnhof entstehen. Die Polizei versuchte nach eigenen Angaben mit einem Großaufgebot, zu intervenieren - vergeblich. Zwei Beamte seien bei der Aktion verletzt worden, hieß es.

Die Aktivisten zeigten sich zufrieden: "Der Bauzaun liegt, das ist ein gutes Zeichen", sagte Matthias von Herrmann, Sprecher der "Parkschützer", die dem Projekt besonders unversöhnlich gegenüberstehen und sich auch nicht an der Schlichtung beteiligt hatten.

Mit der "spontanen Aktion" forderten sie die zukünftige grün-rote Regierung zum sofortigen Baustopp auf, mahnte Herrmann."Wir Parkschützer fangen schon mal an." Auch auf politischer Ebene mischten sich noch am Wahlabend Forderungen unter den Jubel. "Ein sofortiger Baustopp ist zwingend. Es dürfen keine weiteren Fakten geschaffen werden", sagte Boris Palmer, grüner Oberbürgermeister von Tübingen und Sprachrohr der S21-Gegner im Schlichtungsverfahren, im Interview mit sueddeutsche.de.

Wo geht's ins 21. Jahrhundert?

SPD-Spitzenkandidat Schmid betonte derweil, es liege "nicht in den Händen" der Landespolitik, ob tatsächlich ein Baustopp erfolgen werde. Hier seien vor allem der Bund und die Bahn gefordert. Zwar hatte Kanzlerin Merkel die Wahl in Baden-Württemberg zu einer Volksabstimmung über Stuttgart 21 und andere Themen erklärt.

Ihr Verkehrsminister Peter Ramsauer hat aber bislang nur angekündigt, die Auswirkungen der Wahlergebnisse auf Verkehrsgroßprojekte in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz prüfen zu lassen. Von einem Baustopp war nicht die Rede. Die Bahn würde sich wohl mit allen Mitteln dagegen wehren. Sie kann auf den Schlichterspruch verweisen: Darin hat Vermittler Heiner Geißler dem Unternehmen zwar einen Stresstest des neuen Bahnhofs aufgebürdet, den Bau aber grundsätzlich genehmigt. Die Grünen stimmten am Ende des Schlichtungsverfahren zu. "Es ist besser wie nix'", schwäbelte im November 2010 der grüne Landtagsabgeordnete Werner Wölfle.

Mit der Ankündigung einer raschen Volksabstimmung wird Grün-Rot die S21-Gegner nur zum Teil besänftigen können. Und dann ist da noch der hausinterne Krach, der den Koalitionspartnern mit hoher Wahrscheinlichkeit blüht. SPD und Grüne werden direkt wieder wahlkämpfen müssen - diesmal um Ja- und Neinstimmen zu Stuttgart 21.

Schon um die Rekordzahl ihrer Wähler zufriedenzustellen, werden sich die Grünen klar gegen das Projekt stellen - vielleicht mit Ausnahme des Ministerpräsidenten Kretschmann, der die Moderation für sich in Anspruch nehmen könnte. Die SPD hingegen wird dafür werben - das hat Nils Schmid in den vergangenen Wochen mehrfach bekräftigt. Man solle sich gut überlegen, ob man Milliarden Euro dafür ausgibt, nichts zu bekommen, hatte Schmid noch bei einem seiner letzten Auftritte am Samstag gesagt.

Am Wahlabend klang das freilich etwas anders: "Sicherlich wird es Konflikte geben", sagte er bei seinem Gastauftritt bei der Wahlparty der Grünen, dennoch freue er sich auf die Zusammenarbeit. "Gemeinsam werden wir das Land ins 21. Jahrhundert führen", rief Schmid. Viele Grüne bejubelten auch diese Aussage. Nur wenige registrierten, dass Schmid mit dem "21. Jahrhundert" womöglich einen Tiefbahnhof gemeint haben könnte.

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