Großprojekte in Berlin:Eine Stadt wie ein Billardtisch

Permanentes S-Bahn-Chaos, täglich zu viel Hundekot, nun das Debakel mit dem Großflughafen. In Berlin wird einfach viel bewegt, deshalb läuft auch viel schief, heißt es aus der Regierung. Dabei sind die Wirtschaftsprognosen für die Stadt schlechter als für Warschau, Budapest und Prag.

Evelyn Roll, Berlin

An diesem Sonntag sollte eigentlich die Berliner Sause des Jahrzehnts gefeiert werden: ein grandioses Rund-um-die-Uhr-Fest zur Eröffnung des Willy-Brandt-Flughafens mit allem Pipapo und 40.000 Gästen. Die Einladungen an die 10.000 wichtigsten waren schon verschickt. Auch die Bundeskanzlerin musste wieder ausgeladen werden.

Verkehrsausschuss besucht Flughafen Berlin-Brandenburg

Für mehr als eine Begutachtung reicht es noch nicht. Das Großprojekt um den neuen Hauptstadtflughafen Berlin-Brandenburg Willy Brandt verläuft nicht nach Plan.

(Foto: dpa)

Und während die verantwortlichen Aufsichtsräte Klaus Wowereit, Matthias Platzeck und Rainer Bomba, das ist der Staatssekretär von Verkehrsminister Peter Ramsauer, erstaunlich erfolgreich die überraschten Ahnungslosen geben, wurde im Windschatten des Großaufruhrs mal eben bekanntgegeben, dass auch der Termin für die Neueröffnung der Oper Unter den Linden auf April 2015 verschoben werden muss.

Warum passiert so etwas immer in Berlin? Länderfusion, Olympiabewerbung, Hauptbahnhof, S-Bahn-Chaos? Warum wird diese Stadt jedes Jahr im Januar davon überrascht, dass es in unseren Breitengraden so etwas wie Winter gibt und man Enteisungsmittel hätte besorgen müssen? Und wenn sie eine Razzia organisieren gegen die Hells Angels, warum bekommen die vorher die Einsatzpläne?

Es hat zurzeit keinen Sinn, solche Fragen mit dem Regierenden Bürgermeister oder seinem Büro diskutieren zu wollen. Offenbar sind wir arroganten Münchner die Einzigen, die überhaupt solche Fragen stellen. In München wird nicht so viel bewegt, darum geht da auch nicht so viel schief, sagt Richard Meng, der Sprecher des Regierenden Bürgermeisters.

Wie jede andere osteuropäische Hauptstadt

Elbphilharmonie, Flughafen in Wien, die Kölner U-Bahn, Stuttgart 21, ist das etwa alles Berlin? Außerdem entsteht der neue Flughafen in Brandenburg, das also genau so schuld ist wie Berlin. Vor allem das Landratsamt in Königs Wusterhausen, das den Brandschutz nicht abgenommen hat, ist schuld. Und auch der Bund ist Bauherr. "So viele Veto-Spieler. Das ist ganz schwer zu kontrollieren. Und dann läuft alles ziemlich rational in so ein Chaos rein", sagt Meng.

Früher haben wir Berlins Seltsamkeiten gerne mit der folgenden, wahren Begebenheit erklärt: Eine Zweitwohnungs-Berlinerin aus Düsseldorf beschwerte sich beim Berliner Innensenator darüber, wie schrecklich es überall aussieht in der Hauptstadt, dieser Dreck, die überquellenden Papierkörbe, der Hundekot, die Bettler, Kleinbetrüger und Ganoven auf dem Alexanderplatz. Der Innensenator antwortete: Ich verstehe nicht, wovon Sie sprechen. In Berlin sieht es doch überhaupt nicht anders aus als in jeder anderen osteuropäischen Hauptstadt auch.

Das war, was man eine sich selbsterfüllende Prophezeiung nennt. Inzwischen liegt Berlin in OECD-Studien bei der Entwicklung von Wirtschaftskraft, den Chancen für den Arbeitsmarkt, der Haushaltslage und den Zukunftsaussichten hinter Prag, Budapest und Warschau.

Jedes dritte Kind unter 15 Jahren in dieser Stadt wächst in Armut auf. Die Stadt selbst ist noch viel ärmer. 150.000 Beamte und Stadtbedienstete fressen 90 Prozent der Steuereinnahmen. An jedem einzelnen Tag muss Berlin 6,65 Millionen Euro für die zu zahlenden Schuldzinsen aufbringen. Vielleicht ist das alles so hoffnungslos, dass man es an entscheidenden Stellen gar nicht mehr ernst nimmt.

Verlockung kollektiver Fehlentscheidungen

Der Zustand von Verwaltung und Politik in dieser Stadt wurde in den Jahren nach der Wiedervereinigung gerne mit dem alten, zähen Funktionärsklüngel begründet. Die intensive Subventionskultur vor dem Mauerfall in beiden Teilen der Stadt habe auf allen Ebenen Verteilungskartelle und Seilschaften hervorgebracht, die ihre Kraft dafür vergeuden, dass alles so bleibt, wie es ist. Nur, dass inzwischen mehr als 20 Jahre seit der Wende vergangen sind. Warum wird das nicht besser?

Rundgang über den Flughafen Berlin Brandenburg Willy Brandt

Außer Betrieb - Out of Order: Ein typisches Bild aus Berlin.

(Foto: dpa)

Oliver Berthold, ein französischer Wirtschaftswissenschaftler, der an der Humboldt-Universität über Pfadabhängigkeiten in Verwaltungen und den Umgang mit Unsicherheiten und Krisensituationen bei Großprojekten forscht, sagt es so: "Das hat systemische Gründe. Bürokratien funktionieren wie Gesellschaften mit ihren kollektiven Aufmerksamkeitsverengungen und Ausblendungen. Wer neu in so eine Bürokratie kommt, verändert nichts, sondern passt sich an. Deswegen sind Systemwechsel in Bürokratien so sehr schwer durchzusetzen."

Der amerikanische Psychologe Solomon Asch hat Anfang der fünfziger Jahre mit einem so einfachen wie verblüffendes Experiment bewiesen, warum das so ist. Testpersonen mussten angeben, welche von drei verschiedenen langen Linien genauso lang ist wie eine weitere, vierte Linie. Man erkennt das ganz leicht und sofort. Was die Testpersonen nicht wussten, ist: Die anderen Menschen im Versuchsraum waren nicht wirklich weitere Testpersonen, sondern Eingeweihte und Teil des Experiments.

Sie waren instruiert, bei vorher genau festgelegten zwei Dritteln der Aufgaben geschlossen eine falsche Lösung zu verkünden. Und alle Testpersonen haben sich bei einem Drittel dieser Fälle mit ihrem Urteil an die falsche Mehrheitsmeinung angepasst, obwohl man wirklich mit bloßem Auge sehen kann, welche Linien gleich lang sind. Die Gehirnforschung der Gegenwart hat inzwischen gezeigt, dass die Anpassung an kollektive Fehlentscheidung von den Belohnungszentren gesteuert wird. Und: Je größer eine Gruppe ist, desto mehr Konformität wird erzeugt.

Prototyp einer Postdemokratie

Überall bei Großprojekten gibt es die Dichotomie zwischen Plan und Effektivität. Ein Stichtag ist immer eine Wette", sagt Oliver Berthold. Jede Verwaltung aber habe eine andere Mehrheitskultur, mit dieser Dichotomie umzugehen. Und in Berlin halten sie am Stichtag fest, auch wenn sie sehen, dass alles längst aus dem Ruder läuft? Wenn alle sagen, der Flughafen wird fertig, dann glauben das am Ende auch alle? "Ja. So ähnlich funktioniert es. Das ist systemisch. Aber ich möchte bitte kein Berlin-Bashing betreiben, ich bin ja Gast dieser Stadt."

In Berlin hat sich aus diesem System offenbar, beschleunigt durch die öffentliche Armut, der Prototyp einer Postdemokratie selbst gezeugt, in der gar nicht mehr Politik und die Verwaltung, sondern nur noch Spieler und Geldgeber von außen die Stadtplanung bestimmen.

Berlin wurde zum Billardtisch, wie Klaus Escher schreibt: Auf einem Billardtisch rollen und verschwinden zwar die Kugeln. Aber die Anstöße kommen von außen. Nur in so einer Stadt konnte der damalige Bahn-Chef Hartmut Mehdorn - der jetzt als Air-Berlin-Chef die Backen so hämisch aufbläst über den Flughafen-Flop - die S-Bahn in den Ruin sparen und den Hauptbahnhof teuer verstümmeln, ohne dass Politik und Verwaltung ihm in den Arm gefallen sind.

Als am 15. Mai Hertha in Düsseldorf abgestiegen war, plakatierte die Morgenpost ein Bärenmaskottchen im blau-weißen Fußballtrikot, das sich vor Scham die Augen zuhält. Darunter stand: "Berlin ist, wenn man nicht einmal einen Flughafen braucht, um rauszufliegen." Glücklicherweise ist das mit dem Berliner Humor auch systemisch.

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