Große Koalition:"Martin Schulz hat ein Glaubwürdigkeitsproblem"

Der Politologe Oskar Niedermayer über die Ergebnisse der Sondierungen, wie Martin Schulz die SPD auf Groko-Kurs bekommen könnte und was für ein Ministeramt Seehofer anstreben könnte.

Interview von Lars Langenau

Oskar Niedermayer, 65, ist emeritierter Professor für Politikwissenschaften am Otto-Suhr-Institut an der FU Berlin. Schwerpunkte seiner Forschung sind Parteien, politische Einstellungen und Wahlen.

SZ: Herr Niedermayer, hat die Pressekonferenz der drei Parteivorsitzenden von CDU, CSU und SPD nach den Sondierungen Ihnen Aufbruch vermittelt?

Oskar Niedermayer: Die mehr als 24 Stunden der Verhandlungen sind an die physischen Grenzen gegangen. Danach sahen Angela Merkel, Horst Seehofer und Martin Schulz nicht mehr frisch genug aus, um einen Aufbruch zu vermitteln.

Wird es denn eine erneute große Koalition geben oder wird die SPD-Basis dem nicht zustimmen?

Wir müssen bei der Basis zwischen den Delegierten für den anstehenden SPD-Parteitag und den einfachen Mitgliedern unterscheiden: Die mittlere Führungsschicht der SPD vertritt eher die reine Lehre als die einfachen Mitglieder. Deshalb wird die größere Hürde für Martin Schulz eher der Parteitag am Sonntag in einer Woche sein als die anschließende Mitgliederentscheidung. Falls die Mehrheit des linken Teils der Parteitagsdelegierten dafür stimmt, sehe ich auch keine großen Probleme bei den einfachen Mitgliedern, dass sie sich für eine große Koalition entscheiden werden. Allerdings sehe ich beim Parteitag noch große Fragezeichen.

Merkel sagt, die Ergebnisse der Sondierungen seien ein "Papier des Gebens und Nehmens", Seehofer sagt, er sei "hochzufrieden" und es sei ein Signal an die Politik, dass es kein Weiter so geben werde. Die SPD beansprucht für sich, 60 inhaltliche Punkte aus dem SPD-Parteitagsbeschluss durchgesetzt zu haben. Wie bewerten Sie das?

Alle haben Federn gelassen, aber alle konnten sich auch in bestimmten Kernbereichen durchsetzen. Auch wenn es kein dramatischer Neuanfang ist, ist es das, was bei gutem Willen erreichbar war. Gerade die CSU konnte sich bei den Einschränkungen für die Flüchtlinge durchsetzen und die SPD-Forderung nach einem höheren Spitzensteuersatz verhindern. Die SPD kann ein künftiges Einwanderungsgesetz, eine Grundrente, die Aufhebung des Kooperationsverbots für die Schulen, die Rückkehr zur paritätischen Finanzierung in der gesetzlichen Krankenversicherung, jedoch keine Bürgerversicherung, als Erfolg verkaufen. Die Parteiführungen können damit leben, die große Frage jedoch ist, ob die Mehrheit der SPD-Funktionäre damit leben kann.

Das klingt grundsätzlicher ...

Die Gegner der großen Koalition machen ihre Einstellung nicht nur an den Ergebnissen fest, sondern demokratietheoretisch wie etwa die Jusos. Die behaupten, dass große Koalitionen immer die Ränder stärken. Das stimmt aber nicht, denn zum Beispiel ist die AfD nicht dadurch so stark geworden, weil es eine große Koalition gab, sondern durch eine bestimmte Art der Flüchtlingspolitik. Da hat sich jetzt die CSU-Forderung mit den Asylzentren und einer Obergrenze weitgehend durchgesetzt, die jetzt als Bandbreite von 180 000 bis 220 000 Menschen definiert wird, damit sie nicht mehr wie die ursprüngliche CSU-Linie klingt. Aber auch in der Flüchtlingspolitik werden sich alle wiederfinden, weil die SPD ein Einwanderungsgesetz und ein Stück weit den Familiennachzug durchgesetzt hat, die CSU allerdings wieder einen "geordneten" und "gestaffelten", "nur aus humanitären Gründen".

"... dann müsste Schulz mit sofortiger Wirkung zurücktreten"

Übernimmt jetzt die SPD unter Martin Schulz die Rolle der FDP als Umfaller?

Schulz hat sich um 180 Grad gedreht. Zunächst hat er mit seiner apodiktischen Ablehnung der Fortsetzung der großen Koalition die Stimmung der Mitglieder richtig eingeschätzt, weil er ja auch Parteivorsitzender bleiben wollte. Dafür ist er ja auch gefeiert worden. Nach dem Scheitern von Jamaika rechtfertigte er seine Wendung mit Außenzwängen durch den Bundespräsidenten, die FDP, Verlässlichkeit in der Welt sowie den Druck der europäischen Schwesterparteien. In dem Sinne, er selbst sei ja gar nicht schuld, sondern Opfer der Verhältnisse.

Große Koalition: Politologe Oskar Niedermayer: Obwohl die Mehrheit der SPD-Delegierten dem Ergebnis möglicherweise nicht positiv gegenüberstehen wird, müssen sie sich jetzt überlegen, ob sie ihren gesamten Parteivorstand in die Wüste schicken wollen

Politologe Oskar Niedermayer: Obwohl die Mehrheit der SPD-Delegierten dem Ergebnis möglicherweise nicht positiv gegenüberstehen wird, müssen sie sich jetzt überlegen, ob sie ihren gesamten Parteivorstand in die Wüste schicken wollen

(Foto: imago stock&people)

Und nun?

Obwohl die Mehrheit der SPD-Delegierten dem Ergebnis möglicherweise nicht positiv gegenüberstehen wird, müssen sich die Delegierten jetzt überlegen, ob sie ihren gesamten Parteivorstand in die Wüste schicken wollen. Falls der Parteitag den einstimmigen Beschluss des SPD-Vorstandes ablehnen sollte, müsste Schulz mit sofortiger Wirkung zurücktreten. Das ist ein großer Druck, weil die Delegierten der gesamten Parteiführung das Misstrauen aussprechen würden. Deshalb glaube ich, dass es Schulz letztlich gelingen kann, eine Zustimmung für die Koalitionsverhandlungen zu bekommen, auch wenn viele Delegierte die Faust in der Tasche ballen werden.

Die 28 Seiten des Sondierungspapiers wirken ja schon wie ein Koalitionsvertrag ...

Dabei hätte man sich zunächst auch nur auf die großen Linien verständigen können, tatsächlich ist es sehr detailliert. Meines Erachtens zeugt das von einer fehlenden oder zumindest sehr angekratzten Vertrauensbasis.

Schulz hatte die SPD ursprünglich auch in der Rolle der Oppositionsführerin gesehen. Jetzt gibt er diese Rolle an die AfD ab. Birgt das nicht eine große Gefahr, wenn die Rechtspopulisten sich künftig nach jeder Regierungserklärung im Parlament als Erste zu Wort melden können?

Das wird dann nicht mehr zu verhindern sein. Es ist klar, dass die AfD formal eine herausgehobene Position haben wird. Aber wenn die dann nur Unsinn reden und die anderen Parteien nicht nur moralisch empört reagieren, sondern diese Partei inhaltlich zerpflücken, wird ihr das gar nichts nützten. Und was hat denn die Linkspartei aus dieser Rolle machen können, die sie die vergangenen vier Jahre inne hatte? Gar nichts. In den ersten zwei Jahren der großen Koalition waren die Zustimmungswerte für die Union und die SPD wie betoniert: Die AfD lag Mitte 2015 bei etwa vier Prozent, die anderen Parteien ungefähr bei ihren Wahlergebnissen. Erst nach der Merkel-Entscheidung, die Flüchtlinge ins Land zu lassen, ging die AfD in den Zustimmungswerten hoch wie eine Rakete.

Wird Horst Seehofer als Minister in die neue Regierung eintreten?

Mit Sicherheit, es ist ihm klar, dass er nach der kommenden Wahl in Bayern auch den Parteivorsitz abgeben muss. Das ist seine einzige Chance, wenn er sich noch ein bisschen Macht sichern will.

In der Pressekonferenz nach den Sondierungen hatte Seehofer plötzlich sein soziales Herz wiederentdeckt. Was für ein Amt wird er anstreben?

Ich denke, dass er statt des Innenministeriums eher das Arbeits- oder Sozialministerium anstreben wird um das soziale Gewissen der CSU zu verkörpern. Alexander Dobrindt scheint seine Rolle als Landesgruppenchef gefunden zu haben und wird wohl kein Ministeramt anstreben.

Und Schulz?

Das ist die spannendste Entscheidung. Er hatte zuvor auch kategorisch ausgeschlossen, unter einer Kanzlerin Merkel ins Kabinett einzutreten. Wenn er da eine weitere 180-Grad-Wende vollziehen wird, dann hat er meiner Meinung nach in den Augen der Wähler noch ein weiteres Glaubwürdigkeitsproblem.

Wie Schulz die SPD überzeugen könnte

Allerdings ist der Außenminister traditionell der beliebteste Politiker.

Das ist kein Gesetz, denken Sie an Guido Westerwelle. Klar ist, dass Schulz das Außenministerium anstreben muss und Merkel ihm das auch nicht verweigern kann. Aber ich halte es nicht für unproblematisch, da ihm der politische Gegner ständig seinen Wortbruch unter die Nase reiben kann.

Überrascht Sie irgendwas?

Nein, selbst das Kippen des Kooperationsverbotes in der Bildung, gegen das die Union so lange war, ist inzwischen gesellschaftlicher Konsens.

Was könnte die SPD-Delegierten überzeugen?

Bei den Renten mussten alle Parteien versichern, dass diese sicher sind. Es verwunderte mich eher, dass sie dieses Thema nicht schon im Wahlkampf prominenter vertreten haben. Ich denke auch, dass die SPD gut beraten wäre, dieses Thema für ihre Klientel als großen Schlager zu verkaufen. Außerdem kann sie verkaufen, dass sie mit ihren Vorstellungen in der Flüchtlingspolitik nicht vollständig untergegangen ist. Die Klimaziele anzupassen ist eher der Realität geschuldet und die Verwendung von Glyphosat grundsätzlich beenden zu wollen ist ein Sieg für die SPD, wie auch die Aufhebung des Kooperationsverbots in der Bildungspolitik. Zwar wird die Bürgerversicherung nicht kommen, aber im Gegensatz zur Rente, der Pflege und den Flüchtlingen gehörte das auch nicht zu dem, was den Bürgern wirklich wichtig ist.

1,5 Millionen neue Wohnungen?

Man wird hier wie immer das gesetzte Ziel verfehlen.

"Umfassende Reformen in der EU und der Euro-Zone"?

Ich verstehe bis heute nicht, warum das der SPD so wichtig ist. Merkel gibt da locker nach, aber für einen Großteil der SPD-Klientel ist das problematisch: Die wollen nämlich nicht ein solidarisches Europa mit wesentlich mehr deutschen Steuergeldern für die EU.

Zusammenfassend: War das der große Wurf?

Nein, aber es war unter den gegebenen Umständen etwas, womit alle leben können.

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