Große Koalition:Gewissensfrage "im Vorbeigehen"

Die SPD wirft der Union beim Thema homosexuelle Lebenspartnerschaften mangelnde Fairness vor.

Von Nico Fried, Christoph Hickmann, Berlin

Große Koalition: Bilanz nach vier Jahren großer Koalition: SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz (rechts) präsentiert den "erfolgreichen Teil der Bundesregierung".

Bilanz nach vier Jahren großer Koalition: SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz (rechts) präsentiert den "erfolgreichen Teil der Bundesregierung".

(Foto: Michael Sohn/AP)

Der Kandidat ist auf Krawall gebürstet, auch wenn man das bei Martin Schulz mangels Masse nicht an den Haaren sehen kann. Politisch aber will Schulz an diesem Dienstag die Guten von den Bösen trennen. Neben ihm sitzen der Chef der Bundestagsfraktion und die amtierenden Kabinettsmitglieder der SPD - "der erfolgreiche Teil der Bundesregierung", wie der Parteivorsitzende sagt. Dieser Teil hätte laut Schulz sogar noch besser sein können, wenn er nicht "in sehr vielen Fällen vom Koalitionspartner daran gehindert worden wäre". Das also soll der schlechte Teil der Regierung sein: die Kanzlerin, ihre Minister sowie die Unionsfraktion.

Gleich wird Martin Schulz für jedes von der SPD geführte Ressort die herausrageenden Leistungen würdigen, wiederholt von Meilensteinen sprechen oder von historischen Erfolgen, Mindestlohn, Frauenquote, Mietpreisbremse. Aber jetzt setzt er erst einmal den Punkt, der ihm heute besonders wichtig ist. Er habe aus einem Talkshow-Auftritt von Angela Merkel erfahren, dass die Kanzlerin entgegen der bisherigen Haltung der Union die Ehe für alle nun als eine Gewissensentscheidung sehe. Deshalb wolle die SPD einen vom Land Rheinland-Pfalz eingebrachten Gesetzentwurf zur völligen rechtlichen Gleichstellung homosexueller Lebenspartnerschaften, der vom Bundesrat bereits übernommen worden sei, noch in dieser Woche im Bundestag abstimmen lassen - "in jedem Fall", so Schulz, also mit der Union oder gegen deren Willen.

Merkel war am Vorabend im Livetalk der Zeitschrift Brigitte von einem Zuschauer gefragt worden, wann er seinen Freund "Ehemann" nenne dürfe, falls er ihn heirate. Darauf hatte die Kanzlerin eine ausführliche Antwort gegeben, die nach einigen Minuten und mit Blick auf ihre Partei in den Satz mündete: "Ich möchte gerne die Diskussion mehr in die Situation führen, dass es eher in Richtung einer Gewissensentscheidung ist, als dass ich jetzt hier per Mehrheitsbeschluss irgendwas durchpauke." Merkel sagte es nicht explizit, war aber so zu verstehen, dass dies für die nächste Legislaturperiode gelten solle. Und sie fügte hinzu: "Dass wir jetzt vier Jahre lang in der Koalition eigentlich nie über das Thema gesprochen haben, und plötzlich im Wahlkampf soll es holterdipolter gehen, das finde ich auch ein bisschen seltsam."

Die Abgeordneten kriegen sich vor Freude kaum ein. Endlich haben sie Merkel überrumpelt

Was sie nicht sagt: Die Befassung mit dem Thema scheiterte an der Union. Den Beweis dafür hält an diesem Vormittag der frühere SPD-Chef Sigmar Gabriel in den Händen. Am 24. November 2015 hatte er in einem Brief an Merkel und CSU-Chef Seehofer vorgeschlagen, die Öffnung der Ehe auch für gleichgeschlechtliche Paare als Thema auf die Tagesordnung der Koalition zu setzen "und bei nächster Gelegenheit zu besprechen". Mit Schreiben vom 13. Januar 2016 antwortete Seehofer, eine völlige Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare könne "aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht erfolgen".

Laut Gabriel ließ der sozialdemokratische Justizminister Heiko Maas auch einen Gesetzentwurf erarbeiten, den man wiederholt habe mit der Union besprechen wollen - ohne Erfolg. Martin Schulz erinnert zudem an die letzte Sitzung des Koalitionsausschusses am 29. März, als die Kanzlerin zu ihm gesagt habe: "Vergessen Sie's." Und nun plötzlich erkläre Merkel das Thema "im Vorbeigehen", so Gabriel, zu einer Gewissensfrage. Vor allem der frühere SPD-Chef redet sich in Rage, sagt, er fühle sich davon persönlich getroffen, weil er wiederholt "redlich und freundlich" das Thema angemahnt habe, er wirft dem Koalitionspartner vor, sich "ausgesprochen unfair zu verhalten", und nimmt gleich zweimal seine durch das Amt des Außenministers auferlegte Pflicht zu diplomatischer Sprache in Anspruch, um nicht zu sagen, dass er sich verarscht fühle.

Am Nachmittag in der Bundestagsfraktion sind die SPD-Abgeordneten bester Stimmung. Fraktionschef Thomas Oppermann scherzt in Richtung des schwulen Abgeordneten Johannes Kahrs, er wisse doch wohl, was das heiße: "Du musst jetzt heiraten." Darauf Kahrs unter großem Gelächter: "Das hat mein Freund heute morgen auch zu mir gesagt." Die Abgeordneten kriegen sich kaum ein vor Freude darüber, Merkel endlich einmal überrumpelt zu haben. Als Martin Schulz dann Merkels wörtliche Aussage vom Abend zuvor mit all ihren verschwurbelten Einschüben vorliest, fühlt sich mancher Teilnehmer an politisches Kabarett erinnert. Im Fraktionssaal bricht Gegröle los. Wenn sich Merkel einmal festlegen müsse, sagt Schulz, dann komme eben so etwas heraus.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: