Großbritannien:Noch besser als lauwarmes Ale

Großbritannien: Spitzentreffen in Amiens: Während britische, französische und europäische Flaggen flattern, begrüßt Frankreichs Präsident Hollande den neuen EU-Freund Cameron.

Spitzentreffen in Amiens: Während britische, französische und europäische Flaggen flattern, begrüßt Frankreichs Präsident Hollande den neuen EU-Freund Cameron.

(Foto: Christophe Ena/AP)

Zur Zeit vollzieht sich bei Premier David Cameron eine wundersame Wandlung - vom größten Kritiker der Europäischen Union zu ihrem größten Befürworter.

Von Christian Zaschke, London

David Cameron ist viel unterwegs zurzeit, er hält Rede um Rede, und dabei sind besonders zwei Aspekte erstaunlich: Zum einen tritt der britische Premierminister fast immer ohne sein hölzernes Rednerpult auf, das ihn sonst stets begleitet. Zum anderen preist er in seinen Reden die EU, als wäre diese die großartigste Errungenschaft seit der Erfindung von lauwarmem Ale.

Dass er ohne sein geliebtes Pult auftritt, liegt daran, dass er bei den Reden in der Mitte seiner Zuhörer steht und frei spricht. Er will einen lockeren, engagierten und zugänglichen Eindruck machen. Seit Cameron im Februar in Brüssel ein neues Verhältnis Großbritanniens zur EU ausgehandelt hat, fährt er durchs Land, um die Bevölkerung davon zu überzeugen, beim Referendum im Juni für den Verbleib in der Union zu stimmen. Er ist jetzt wieder im Wahlkampf. Der Wechsel der Tonlage ist dabei bemerkenswert. Als er 2005 Parteichef wurde, wollte er am liebsten gar nicht mehr über das Thema Europa sprechen, weil es seine Partei spaltet und die letzten beiden konservativen Premierminister Margaret Thatcher und John Major in den Neunzigerjahren letztlich an dieser Spaltung gescheitert sind. Dann sprach er zögerlich, stellte das Referendum in Aussicht, und immer ließ er durchblicken, dass er von den Bürokraten in Brüssel wenig hält. Das tat er mit Blick auf den europaskeptischen Flügel seiner Partei, den er unter Kontrolle halten wollte.

Seit klar ist, dass das Referendum wirklich stattfinden wird, ist es mit der Kontrolle vorbei. Die konservativen EU-Skeptiker wettern entfesselt gegen die Union und diejenigen in der eigenen Partei, die gegen den Austritt sind. Cameron hingegen versucht so oft es geht, außerhalb Londons zu sprechen. Er trat unter anderem bei einem Hersteller von Flugzeug-Triebwerken in Wales auf, er besuchte die Bushmills-Destillerie in Nordirland, er schaute bei Studenten in Ipswich vorbei und machte den Mitarbeitern von O2 in Slough seine Aufwartung. Immer erklärte er, wie gut, wie wichtig, wie essenziell es sei, dass Großbritannien Mitglied der EU bleibe.

Bis Juni will er noch Dutzende dieser Auftritte absolvieren, zum einen, um möglichst viele Menschen zu erreichen, zum anderen, um möglichst wenig Zeit mit seiner sehr aufgeregten Partei zu verbringen. Diese schreckt bereits jetzt, da die Debatte um die EU-Mitgliedschaft seit gut zwei Wochen läuft, nicht mehr vor den ganz großen Worten zurück. Arbeitsminister Iain Duncan Smith warf Cameron zum Beispiel vor, er habe "eine niedrige Meinung vom britischen Volk", weil er diesem nicht zutraue, außerhalb der EU zu überleben. Fraktionschef Chris Grayling nannte zwei in dieser Woche von der Regierung veröffentlichte Studien, die vor einem Austritt warnen, "komplett lächerlich" und legte nahe, dass sein eigener Chef die Öffentlichkeit bewusst in die Irre führe.

Am Donnerstag war Cameron zum britisch-französischen Gipfel nach Paris aufgebrochen, und es kam ihm sehr zupass, dass der französische Wirtschaftsminister Emmanuel Macron vorab vor einem britischen EU-Austritt warnte. "An dem Tag, an dem sich diese Beziehung löst, werden die Flüchtlinge nicht mehr in Calais sein", sagt er der Financial Times. Damit ist gemeint, dass gemäß einem bilateralen Abkommen von 2003 britische Grenzbeamte in Calais prüfen, ob Einreisende über die nötigen Visa verfügen. Macron erinnert daran, dass die Flüchtlinge ohne diese Abmachung ungehindert bis Dover kämen. Derzeit leben in einem Camp bei Calais etwa 4000 Flüchtlinge, die nach Großbritannien gelangen wollen.

Londons Bürgermeister Boris Johnson empfiehlt, nicht länger am Rockzipfel Brüssels zu hängen

Die konservativen EU-Gegner hat die Aussage des Ministers in Rage versetzt. Der Hinterbänkler Bernard Jenkin sprach im BBC-Radio von "Propaganda" - die Bevölkerung solle eingeschüchtert werden. Er wetterte: "Wir zahlen viel Geld in die EU, und die wiederum subventioniert französische Bauern. Klar, dass die nicht wollen, dass wir die EU verlassen." Der Londoner Bürgermeister Boris Johnson reagierte etwas gelassener: "Donnez-moi un break, wie wir in Brüssel sagen." Frei übersetzt: Macht mal halblang. In einer Kolumne in der Sun nannte er den EU-freundlichen früheren Labour-Minister Peter Mandelson einen "verwirrten, alttestamentarischen Propheten". Im Übrigen empfehle er, nicht länger am Rockzipfel Brüssels zu hängen.

Bei dem Treffen mit dem französischen Präsidenten François Hollande in Amiens stand Cameron am Donnerstag dann doch mal wieder an einem Rednerpult, allerdings war es nicht sein eigenes, sondern eines, das die Gastgeber zur Verfügung gestellt hatten. Er gab sich eher staatsmännisch als locker, aber seine Botschaft war die gleiche: "Aufgrund meiner Erfahrung von fast sechs Jahren als Premierminister kann ich sagen, dass es besser für uns ist, in der EU zu bleiben. Wir haben die Wahl zwischen Sicherheit und einem Sprung ins Ungewisse", sagte er. Hollande pflichtete dem Premier bei. Es sei nicht an ihm, der britischen Bevölkerung Ratschläge zu geben, aber er wünsche sich, dass Großbritannien in der EU bleibe. Cameron nickte bei diesen Worten dankbar. Er kann in diesem Kampf jede Unterstützung gebrauchen.

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