Großbritannien:Die Briten haben nicht einmal den Ansatz eines Planes für den Brexit

Großbritannien: Wohin führt der Weg für die Briten? Noch weiß niemand, wie der Brexit eigentlich aussehen soll.

Wohin führt der Weg für die Briten? Noch weiß niemand, wie der Brexit eigentlich aussehen soll.

(Foto: AFP)

Auch Wochen nach dem Referendum über den EU-Austritt fehlt es an Verhandlern - und immer noch ist nicht klar, was eigentlich verhandelt werden soll. Einziger Lichtblick: die pragmatische Premierministerin.

Kommentar von Christian Zaschke

Premierministerin Theresa May wandert gerade durch die Schweizer Alpen. Auch das Gros ihres Kabinetts hat sich in den Sommerurlaub verfügt, weshalb in dieser Woche der Mann Chef ist, der so gerne Premierminister geworden wäre, dass er dafür die Zukunft des Landes aufs Spiel setzte: Boris Johnson, der aus persönlichem Kalkül und gegen seine Überzeugung für den Brexit warb, ist derzeit der ranghöchste Minister im Königreich.

Dass die Briten dennoch ruhig schlafen können, obwohl gerade ein Trickser, Spieler und Opportunist am Ruder steht, mag daran liegen, dass May hat verlauten lassen, sie habe auch wandernd alles unter Kontrolle. Ob aber sie oder Johnson oder sonst jemand in Westminster gut sieben Wochen nach dem Volksentscheid zum Austritt aus der EU irgendetwas unter Kontrolle hat, ist die Frage.

Die EU-Gegner hatten nicht einmal den Ansatz eines Plans

Die Wirren nach dem Referendum spülten May an die Spitze der Regierung, seither wiederholt sie tapfer, Brexit heiße Brexit, und man werde einen Erfolg daraus machen. Tatsächlich aber weiß niemand, was der Brexit bedeutet, und es wird immer deutlicher, dass die EU-Gegner nicht einmal den Ansatz eines Plans hatten, was im Falle eines Votums für den Austritt zu tun wäre. Der äußerst EU-kritische Brexit-Minister David Davis glaubte allen Ernstes eine Weile, man könne nach dem Austritt mit den meisten Staaten auf dem Kontinent bilaterale Handelsabkommen schließen. Er übersah, dass die meisten dieser Staaten solche Abkommen gemeinsam unterschreiben, als Block, weil sie in einer Organisation namens EU zusammengeschlossen sind. Hätte man Davis das in Ruhe erklärt, wer weiß: Vielleicht hätte er sich erkundigt, ob man diesem Block nicht beitreten könnte.

Die Austrittsverhandlungen beginnen erst, wenn die Briten Brüssel gemäß Artikel 50 des EU-Vertrags darüber informieren, dass sie die Union verlassen wollen. Da jedoch das Ausmaß der Planlosigkeit immer deutlicher wird, hat Theresa May kein Interesse daran, das allzu bald zu tun. Zum einen fehlt es an Verhandlern, zum anderen ist nicht klar, worüber im Detail verhandelt werden soll.

May nimmt an, dass es eine Lösung geben wird, die noch nicht auf dem Tisch liegt. Das würde bedeuten, dass man sich weder am norwegischen noch am Schweizer Modell orientieren will. Doch ein neues Modell müssten die Briten erst einmal erfinden, und zwar eines, auf das die EU-Staaten sich einlassen. Zudem müsste dieses Modell die Interessen von Schottland und Nordirland berücksichtigen, wo eine Mehrheit für den Verbleib in der EU gestimmt hat. In Schottland droht ein neues Referendum über die Unabhängigkeit, in Nordirland geriete der brüchige Friede in Gefahr, wenn es tatsächlich eine befestigte Grenze zur Republik Irland gäbe

An Fakten besteht nach wie vor kein Interesse

Das Thema ist, gelinde gesagt, komplex, und viele EU-Gegner reagieren darauf mit Trotz. Teile der EU-kritischen Presse fordern, man solle einfach jetzt und sofort und ohne Verhandlungen austreten. Das könne ja wohl nicht so schwierig sein. Das ist in der Verkennung der Realität beinahe rührend dämlich, und es könnte auch ziemlich witzig sein, wenn es nicht diese Blätter gewesen wären, die in jahrelanger Hetze gegen die EU mit Lügen und Propaganda den Nährboden für den Austritt bereitet hätten.

Dass das Pfund gefallen ist, dass die Zentralbank aus Angst vor einer Rezession den Leitzins auf ein historisches Tief herabstufte und die Wachstumsprognose deutlich senkte, dass am Finanzplatz London die Stimmung beispiellos mies ist, ficht die EU-Gegner nicht an. In den sozialen Medien ist der Tenor: Die Befürworter der Mitgliedschaft sollten jetzt bitte mal aufhören zu jammern, sie hätten verloren, Punkt. Es ist wie in den Tagen vor der Wahl: An Fakten besteht kein Interesse.

Für die Staaten auf dem europäischen Festland gibt es viele Gründe, die Insel mit einiger Sorge zu betrachten. Die Lage ist verworren und die Stimmung gereizt, und ja, Boris Johnson ist tatsächlich Außenminister. Der vormalige Premierminister David Cameron hat die Situation leichtfertig herbeigeführt, indem er das Referendum anberaumte, um eine renitente Minderheit in seiner Fraktion zu befrieden. Johnson missbrauchte es, weil er Premier werden wollte anstelle des Premiers. Beide sahen nicht das große Ganze, sondern ihre persönlichen Ambitionen.

Auf ihrer Wanderung durch die Alpen hat Theresa May nun Zeit, sich zu überlegen, wie sie das Chaos entwirren will, das die beiden Männer hinterlassen haben. Ob es möglich ist, den Brexit zu einem Erfolg zu machen, sei dahingestellt. Allerdings ist es sicherlich möglich, ihn nicht zu einem katastrophalen Misserfolg zu machen. Wenn das jemandem zuzutrauen ist, dann May, der pragmatischsten Politikerin des Königreichs.

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