Großbritannien:Mays Manöver

Die britische Premierministerin ist offenbar bereit, der EU 20 Milliarden Euro für den Austritt anzubieten. Doch beeindrucken kann sie damit weder Brüssel noch Berlin.

Von Alexander Mühlauer, Cathrin Kahlweit, Daniel Brössler, Cerstin Gammelin, London/Berlin/Brüssel

Warum gerade Florenz? Die Premierministerin wolle die Rede, mit der sie an diesem Freitag um 15 Uhr Ortszeit den Stillstand in den Brexit-Verhandlungen mit Brüssel beenden möchte, in einer berühmten Handelsmetropole im historischen Herzen Europas halten, hatte ein Sprecher von Theresa May erklärt. Zyniker im Regierungsviertel merken jedoch an, man habe wohl auf die Schnelle keine andere Stadt mit Flughafen gefunden, in der eine Halle frei war, die Platz für das mitreisende Journalisten- und Expertentross im Saal sowie alle wichtigen Minister auf der Bühne geboten hätte. Damit die Spannung angemessen steigt, kursierte zwei Tage vor dem Event, das von Brexit-Fans als "historisch", von Gegnern als "Pausenfüller" gewertet wird, schon eine Zahl: 20 Milliarden Euro laute Mays Angebot an Brüssel - wofür ganz genau, daran schieden sich die Geister.

Florenz also. Tagelang war in London, wo gewöhnlich jeder Spickzettel von interessierten Hintersassen an die Medien weitergereicht wird, gerätselt worden, was May anbieten könne, um den Knoten in den Austrittsverhandlungen zu lösen. Dass ihr Kabinett zu einem weichen Brexit inklusive einer Übergangsperiode von zwei bis drei Jahren und befristeten Zahlungen für die Teilnahme am Binnenmarkt neigt - das galt zuletzt als ausgemacht. Das Angebot aus London für die Austrittsrechnung könne, so war zu hören, irgendwo zwischen 30 und 60 Milliarden Euro liegen, aber nichts sei gewiss. Dann hatte sich Außenminister Boris Johnson in einem Gastbeitrag für den Telegraph in Erinnerung gebracht und May an die patriotische Pflicht zum harten Brexit erinnert. Gerüchte darüber, dass er gefeuert werde oder selbst das Handtuch werfe, dementierten May und er - unabhängig voneinander - am Rande der UN-Generalversammlung in New York. May wolle allerdings, hieß es, 24 Stunden vor ihrer Reise nach Italien auf einer Kabinettssitzung alle Minister auf Linie bringen, die dann, folgsam applaudierend, auf der Bühne in Florenz hinter ihr stehen sollen.

Racegoers arrive for the first day of racing at Royal Ascot in southern England

Klares Ziel, unklarer Weg: Die Briten bereiten ihren Austritt aus der EU. Wie dieser ablaufen soll, weiß noch niemand genau.

(Foto: Stefan Wermuth/Reuters)

Was genau es mit den 20 Milliarden Euro auf sich hat, das glaubte am Mittwoch die gewöhnlich gut informierte Financial Times zu wissen: Tatsächlich wolle London nur einen Bruchteil der von der EU präsentierten Rechnung für den Austritt anbieten. Die gemeinsamen Verpflichtungen, wie die EU-Kommission sie sieht, laufen eher auf bis zu 100 Milliarden Euro hinaus. Der britische Unterhändler Oliver Robbins, der gerade aus dem Brexit-Ministerium in Mays Stab gewechselt war, hat nach SZ-Informationen seine Gesprächspartner in mehreren europäischen Ländern über die neuen Pläne der Premierministerin informiert - darunter auch Deutschland. May wird in Florenz wohl auch über die Länge einer möglichen Übergangsperiode nach 2019 und die langfristigen Beziehungen des Königreichs zur EU sprechen.

Es geht um viel Geld: Ist der Brexit eher wie eine Scheidung oder der Austritt aus einem Klub?

Die Bundesregierung reagiert ausgesprochen zurückhaltend. Sie will von einem vorab aus London übermittelten Verhandlungsangebot nichts wissen. Selbstverständlich werde "auf vielen Ebenen gesprochen", sagt ein Regierungssprecher. Um dann klarzustellen: "Über konkrete Verhandlungsangebote der britischen Regierung wurden wir vorab nicht informiert". In Berlin wird Mays Hinweis, die Bundesregierung sei über das Angebot informiert worden, als "klassisches Manöver zur Vereinnahmung" gewertet. Es werde die EU nicht von ihrer Verhandlungslinie abbringen. Die 20 Milliarden Euro, die May jetzt auf den Tisch gelegt habe, seien maximal der Anfang, nicht das Ende. "Die Europäische Union hat keinen Grund, sich von den immer verzweifelteren Briten über den Tisch ziehen zu lassen", sagt SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz.

Wenig beeindruckt zeigt sich auch der estnische Ministerpräsident Jüri Ratas, dessen Land derzeit die EU-Ratspräsidentschaft innehat. "Wir wissen heute wirklich nicht, wie die Zahl am Ende aussehen wird", sagt er während eines Brüssel-Besuches. Klar sei, dass die 27er-EU sich völlig einig sei in ihrer Linie gegenüber London und dass die Verhandlungen ausschließlich in der Hand von Chefunterhändler Michel Barnier lägen. Nur wenn dieser ausreichenden Fortschritt melde, könne wie von London gewünscht bereits im Oktober mit Verhandlungen über die künftigen Handelsbeziehungen begonnen werden.

Die Brexit-Taskforce der EU-Kommission ist nun immerhin froh, dass es einen ersten greifbaren Vorschlag aus London gibt. Mehr aber auch nicht. Denn dieser ist weit von der Rechnung entfernt, die Barnier aufgemacht hat. Die 20 Milliarden Euro würden gerade einmal abdecken, was Großbritannien im laufenden EU-Finanzrahmen in den Jahren 2019/20 zahlen müsste (Grafik). Immerhin diese Verpflichtungen scheinen die Briten jetzt zu akzeptieren.

Doch die Grundsatzfrage bleibt offen: Geht es beim Brexit darum, eine Klubmitgliedschaft zu kündigen oder ist es eine Scheidung? Wer etwa aus einem Golfklub austritt, hat keinen Anspruch auf das Eigentum des Vereins. Bei einer Scheidung wiederum kommt alles auf den Tisch. London beansprucht eine Gütertrennung; dazu würde dann auch der britische Anteil an den Gebäuden der Gemeinschaft zählen.

Der größte Teil der Verpflichtungen sind offene Rechnungen. Wenn man so will, verhalten sich die EU-Mitglieder nicht anders als die Gäste in einer Kneipe. Sie bestellen großzügig und schreiben gerne an. Die 27 EU-Staaten bestehen darauf, dass Großbritannien auch jene Lokalrunden bezahlt, die bereits bestellt wurden. Das sind eine ganze Menge, etwa Investitionen, die über Jahre hinaus geplant sind. Hinzu kommen noch die Pensionsbezüge von EU-Beamten.

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